Strom kommt aus der Steckdose, oder?
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort: Was ist Energie?
- Energieatlas
- Ursache von Energie
- Fundamente aller Energiequellen
- Energiequellen im Zeitenwandel
- Nachhaltigkeit und der Blick in die Vergangenheit (Energiequellen im Zeitenwandel — Teil 1)
- Entstehen, Existenz und Vergehen der Sterne als Energiequellen (Energiequellen der Gegenwart)
- Neue Möglichkeiten am Horizont und die Zukunft ist offen
- Erneuerbare Energie im Überblick
- Direkte Nutzung der Sonnenstrahlung
- Bewegungsenergie des Windes
- Bewegungsenergie und chemische Energie von Meerwasser
- Bewegungsenergie von Fließwasser
- Wärmeenergie der Erdkruste
- Chemische Energie der Biomasse
- Fortsetzung folgt …
Das Schlaraffenland der Energie
„Strom kommt aus der Steckdose“ lautet ein geflügeltes Wort. Elektrizität versorgt Menschen zu Hause, am Arbeitsplatz oder zur Fortbewegung mit notwendiger Energie.
Die Steckdose wird von Kraftwerken über Stromnetze beliefert. Mit dieser Art der Energieversorgung entwickelte sich der heute so selbstverständlich erscheinende Lebenskomfort.
Dieses Konzept wirkt fast wie ein Schlaraffenland. Der Unterschied besteht nur darin, dass keine gebratenen Hühner an hungrigen Mündern vorbeifliegen. Stattdessen wird uns ein scheinbar unendlicher Fluss von Energie bereitgestellt.
Man könnte sich also zurücklehnen und auf den Erhalt des Schlaraffenlandes hoffen. Doch dieses Land ist bedroht.
Die Menschen nehmen zur Kenntnis, dass Art und Weise der Energiegewinnung und Bereitstellung sowie der Energienutzung das Klima auf der Erde in relativ kurzer Zeit stark verändert. Die Geschwindigkeit dieser Veränderung übersteigt alle Erfahrungen seit der Wiege der Zivilisation in Mesopotamien.
Dies erfordert eine radikale Neugestaltung der von Menschen organisierten Energiekreisläufe. Mit diesen Anstrengungen entwickelte sich aber auch das Bewusstsein zu Möglichkeiten selbstverantwortlich gestalteter Energiesysteme im persönlichen Umfeld, im Unternehmen sowie in städtischen und ländlichen Gebieten.
Dabei prägen neue Begriffe die Diskussion zum Energiesystem der Zukunft. Einfache Wirkungsketten aus Kraftwerken, Stromnetzen, Energieversorgern und Energienutzern wandeln sich zu autonomen und gleichzeitig vernetzten Energiekreisläufen.
Die Gestaltung von Energielandschaften schafft transdisziplinäre Verbindungen zwischen Berufsgruppen, die bisher kaum Verbindungen pflegten. Umweltschützende Aktivisten interagieren mit Ökonomen. Architekten lernen Möglichkeiten der Gestaltung energetisch aktiver Gebäude kennen. Das Internet der Dinge ermöglicht neue Formen und Räume der Gemeinschaft sowie der gemeinsamen Gestaltung und Nutzung von Energieflüssen auf Basis von Informationsflüssen. Dabei stellen wir bisher geglaubte technische Gewissheiten in Frage und lernen die Herausforderungen der Veränderung als soziale Chancen wahr.
Um aber die Bedeutung dieses Prozesses für eine grundsätzliche Umgestaltung gesellschaftlicher Abläufe zu verstehen, müssen wir den Begriff Energie besser verstehen.
Was ist Energie und was bewirkt sie?
Energie stellt die fundamentale Größe der Physik dar. Physiker können Energie beschreiben. Aber sie können nicht wirklich anschaulich erklären, worauf die Existenz von Energie im Kern beruht. Der Energiebegriff wird als Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeit beschrieben. Arbeit im physikalischen Sinne bedeutet, Körper in Bewegung zu versetzen, zu verformen, Gas zusammenzudrücken, elektrischen Strom fließen zu lassen oder elektro-magnetische Wellen beispielsweise als Radiowellen abzusenden. Zur Erhaltung unseres Lebens ist ebenso Arbeit zu verrichten.
Wir nehmen Energie also erst richtig war, wenn sie etwas bewirkt, wenn sie auf ein Ding als Kraft entlang eines Weges wirkt, wenn sie einen Fluss der Veränderung auslöst und Formen schafft.
Wir beschreiben Energie damit nicht als irgendeine Substanz, sondern durch ihre Wirkung. Diese Wirkung basiert auf Unterschieden zwischen Wirkungsort und Umgebung. Derartige Unterschiede entstehen zum Beispiel durch Wasser, das in einem erhöhten Becken im Verhältnis zum tieferen Becken gespeichert wird. Eine Batterie stellt Unterschiede durch die Trennung von positiv und negativ geladenen Teilchen bereit. Durch Differenzen wird also die eigentliche Grundlage der Wirkung ausgedrückt, bei deren Ausgleich Energie und damit die Fähigkeit zur Arbeit bereitgestellt wird. Differenzen sind potenzielle Formen als Ursache der Entwicklung und Energie ist die Folge, durch die Gestalt als materielles Ergebnis entsteht.
Energie und Selbstbestimmung
Durch diese Gestaltungskraft von Energie mehren einige der mächtigsten Unternehmen der Welt ihren Reichtum. Länder mit einem höheren Grad an Energiebereitstellung besitzen mehr Potential für Arbeitsplätze und sind bei der Berechnung des Einkommens pro Kopf reicher. Den ärmsten Ländern mangelt es an ausreichendem Zugriff auf Energie.
Mit den Menschenrechten besteht ein weltweiter Konsens, dass jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard hat, der Gesundheit und Wohl für sich selbst und die eigene Familie gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.
Ebenso besitzt die informationelle Selbstbestimmung im Rechtssystem demokratischer Länder einen hohen Stellenwert.
Aber das Recht auf energetische Selbstbestimmung wird bisher noch nicht auf breiter Front diskutiert. Angesichts der vorgestellten grundlegenden Bedeutung von Energie für Arbeit und Wohlstand folgt in logischer Konsequenz der Anspruch, mit autonomer Gestaltung den Grad der energetischen Selbstbestimmung zu erhöhen.
Statt Energie im Schlaraffenland Energie in Zellen
Um das Recht auf autonome Gestaltung mit Solidarität in der Gesellschaft zu verbinden, kann mit dem Begriff Zelle ein biologischer Vergleich angestellt werden. Hierzu wird auch in den Wirtschaftswissenschaften seit den 1980er Jahren der Begriff Evolutionsökonomik benutzt.
Daraus folgte in der öffentlichen Diskussion zur Transformation des Energiesystems ein metaphorischer jedoch gleichzeitig extrem produktiver Begriff — der Energieorganismus. Dieser Organismus steht sinnbildlich für ein komplexes System, das mit Infrastrukturen für Energie, Kommunikation und Logistik seine Existenz gewährleistet. In einem Organismus befindet sich alles im Fluss, und wiederum befindet sich jener Organismus im Fluss seiner Umwelt. Angewendet auf die Wirtschaftswissenschaft wird nicht das mikroökonomische Gleichgewicht gesucht, sondern der Weg zum nachhaltigen Wachstum und Gedeihen der Gesellschaft.
Obwohl die Menge der uns zur Verfügung stehenden Energie laut dem Energieerhaltungssatz weder erzeugt noch vernichtet werden kann, befindet sich das, was wir Energie nennen, in einem stetigen Umwandlungsprozess. Deshalb ist es wichtig, die Gesetzmäßigkeiten von Energieflüssen zu verstehen, um deren Möglichkeiten in die Gestaltung von Gebäuden, Stadtquartieren, gewerblichen und industriellen Gebieten sowie ländlichen Flächen optimal zu nutzen.
Das Anzapfen dieser Umwandlungsprozesse durch den Menschen zur Nutzbarmachung der Energieflüsse setzt ein Denken in Zyklen voraus. Zur Motivierung dieses zyklische Denken dient in den weiteren Kapiteln die Beschäftigung mit Energie, den erneuerbaren Energiequellen, Energieträgern und Energiespeichern, mit den zugehörigen Wandlungsprozessen sowie dem Energiemanagement zum effizienten Energieeinsatz.
Andreas Kießling, energy design, Leimen / Heidelberg — 09. November 2021