Vielfältige Gestaltung statt Detailregulierung

Plädoyer für neuen Gesamtentwurf zum Energiesystem der Zukunft

Vielfältige Gestaltung statt Detailregulierung
Vielfältige Gestaltung statt Detailregulierung mit Bauhaus 2.0, Darstellung copyright by AdobeStock No. 429905832

Plädoyer für neuen Gesamtentwurf zum Energiesystem der Zukunft

„Pro­ble­me kann man nie­mals mit der­sel­ben Denk­wei­se lösen, durch die sie ent­stan­den sind.“ Albert Einstein

 

Wissen um den Energiebedingten Klimawandel

Acht­zig Pro­zent der Koh­len­di­oxid­emis­sio­nen sind ener­gie­be­dingt. Bei den Anstren­gun­gen gegen den Kli­ma­wan­del wird somit der Fokus auf die Art und Wei­se der Gewin­nung und Nut­zung von Ener­gie ver­ständ­lich. Son­ne und Wind bie­ten aktu­ell die größ­ten Poten­zia­le für den not­wen­di­gen schnel­len Wan­del. Dazu besteht in der Poli­tik weit­ge­hend Kon­sens. Schwie­ri­ger wird die Eini­gung bei der Bestim­mung des Weges.

 

Untrennbarkeit des Ausbaus Erneuerbarer Energien mit Sektorkopplung und Energieeffizienzmaßnahmen

Mit den For­schungs­pro­jek­ten seit dem Jah­re 2010 wur­de der Bedarf zur Kopp­lung der Ener­gie­sek­to­ren deut­lich, um die not­wen­di­ge Fle­xi­bi­li­tät im erneu­er­ba­ren Strom­sys­tem zu gewähr­leis­ten. Hin­zu kommt, dass zwar die direk­te Nut­zung von Strom am ener­gie­ef­fi­zi­en­tes­ten ist, aber nicht mit Elek­tri­zi­tät zu decken­de Bedar­fe verbleiben.

Dage­gen ist bei poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen das Bewusst­sein um die Not­wen­dig­keit sek­tor­über­grei­fen­der Rah­men­be­din­gun­gen bezüg­lich Elek­tri­zi­tät, Wär­me und Gas sowie deren Nut­zung in Gebäu­den, in Gewer­be und Indus­trie, im Ver­kehr, in der Land­wirt­schaft oder — im glo­ba­len Maß­stab – zur Meer­was­ser­ent­sal­zung noch nicht aus­rei­chend verbreitet.

Eben­so kann die not­wen­di­ge Reduk­ti­on der Koh­len­di­oxid-Emis­sio­nen im not­wen­di­gen Tem­po allein durch den Aus­bau Erneu­er­ba­rer Ener­gien nicht gelin­gen. Inso­fern kommt der Stei­ge­rung der Ener­gie­ef­fi­zi­enz eine eben­so hohe Bedeu­tung zu. Allein durch die Dezen­tra­li­sie­rung bei der Nut­zung Erneu­er­ba­rer Ener­gien kön­nen 760 TWh Umwand­lungs­ver­lus­te ein­ge­spart wer­den. Wär­me­pum­pen besit­zen das Poten­zi­al den Ener­gie­be­darf im Wär­me­sek­tor um 550 TWh zu ver­rin­gern. Hin­zu kommt das Ein­spar­ver­mö­gen in Höhe von 310 TWh im PKW-Ver­kehr durch Elektromobilität.

 

Potenzialgrenzen sowie Komplexität der Aufgaben und Technologielösungen erfordern Lösungsoffenheit

Bei aller Begeis­te­rung für den direk­ten Ein­satz von Strom wer­den in der Gesamt­be­trach­tung des Ener­gie­be­dar­fes von Städ­ten, Indus­trie­be­trie­ben und im Ver­kehr schnell Gren­zen ersicht­lich. Bei­spiels­wei­se benö­tigt indus­tri­el­le Pro­zess­wär­me eine kom­ple­xe Betrach­tung des Ein­sat­zes von Bio­mas­se, Abwär­me­rück­ge­win­nung, Wär­me­pum­pen und Solar­ther­mie. Die Kom­ple­xi­tät von Hei­zung und Küh­lung bei Wohn- und Gewer­be­ob­jek­ten sowie Stadt­quar­tie­ren und länd­li­chen Sied­lun­gen steigt mit erneu­er­ba­ren Ener­gie­kreis­läu­fen ebenso.

Bestand­teil der Sek­to­ren­kopp­lung ist auch die ener­ge­ti­sche Nut­zung von Bio­mas­se, aber deren Nut­zung befin­det sich in der Flä­chen­kon­kur­renz zur Lebensmittelproduktion.

Die Gren­zen der direk­ten Nut­zung von Strom wer­den eben­so beim Flug- und Schiffs­ver­kehr sowie beim LKW-Fern­ver­kehr ersicht­lich. Hier wird die Umwand­lung von Strom in Was­ser­stoff benö­tigt. Die Bedar­fe zur Nut­zung von Was­ser­stoff als Ener­gie­trä­ger bestehen aber ins­be­son­de­re in der Zement­pro­duk­ti­on, in der Grund­stoff­in­dus­trie sowie bei der Eisen- und Stahl­pro­duk­ti­on. Dabei ist aus Effi­zi­enz­grün­den genau abzu­wä­gen, wo der Ein­satz von Was­ser­stoff sinn­voll ist und wo nicht. Schnell wer­den in der Dis­kus­si­on fik­ti­ve Bedar­fe zum Was­ser­stoff­ein­satz in Gebäu­den und beim Ver­kehr gene­riert. Der Ein­satz von Was­ser­stoff ist des­halb sehr dif­fe­ren­ziert zu bewerten.

Bei glo­ba­ler Sicht auf das Ener­gie­sys­tem gehört auch der Ener­gie­ein­satz zur Meer­was­ser­ent­sal­zung dazu. Damit ist qua­si alles mit allem ver­bun­den. Gekop­pelt sind die The­men Kli­ma­schutz, bezahl­ba­rer Zugriff auf Ener­gie, Flä­chen­kon­kur­renz zwi­schen Lebens­mit­teln und Ener­gie­ge­win­nung, Was­ser­ge­win­nung, nach­hal­ti­ge Gestal­tung von Städ­ten und Gemein­den, Umbau von Indus­trie und Infra­struk­tu­ren sowie das Ver­hält­nis von Kon­sum und Produktion.

 

Neuer Gesamtentwurf mit Speichertechnologien, Dezentralität und Entbürokratisierung

Hin­zu kommt in die­sem Umfeld der viel­fäl­ti­ge Bedarf an unter­schied­lichs­ten Spei­cher­tech­no­lo­gien. Das Ener­gie­sys­tem der Ver­gan­gen­heit war fos­sil und kern­te­chisch getrie­ben und zen­tral gesteu­ert. Spei­cher­tech­no­lo­gien spiel­ten eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Zukünf­tig ermög­li­chen erst die­se Tech­no­lo­gien in Ver­bin­dung mit dem Sek­to­ren­ver­bund das gesi­cher­te Energieangebot.

Das dar­aus resul­tie­ren­de Sys­tem mit viel­fäl­ti­gen Quer­be­zie­hun­gen und zir­ku­lä­ren Pro­zes­sen lässt sich in sei­ner Kom­ple­xi­tät nicht mehr zen­tral umfas­send pla­nen sowie poli­tisch im Detail vordenken.

 

Benötigt wird ein neuer Gesamtentwurf als Leitbild für das Energiesystem der Zukunft.

Das Pro­jekt C/sells sowie der VDE-Fach­aus­schuss „Zel­lu­lä­re Ener­gie­sys­te­me“ schla­gen sowohl eine zel­lu­lä­re Archi­tek­tur des Ener­gie­ver­bun­des vor als auch einen ent­schlack­ten Rah­men, der mit Ziel­grö­ßen arbei­tet. Die­ser Rah­men ermög­licht weit­ge­hend tech­no­lo­gie­of­fen die Eigen­ge­stal­tung in Zel­len ver­schie­de­ner Typen. In C/sells wur­de die­ses Kon­zept in Zel­len ver­schie­de­ner Grö­ßen­ord­nun­gen als Gebäu­de, Stadt­quar­tie­re, länd­li­che und gewerb­li­che Area­le, Städ­te und Regio­nen im Sek­to­ren­ver­bund demonstriert.

Die­se Zel­len schlie­ßen für den Ent­schei­der in der Poli­tik einen Teil der Kom­ple­xi­tät des Gesamt­sys­tems in auto­no­men Tei­len ein. Sie ermög­li­chen viel­fäl­ti­ge Gestal­tung statt Detail­re­gu­lie­rung. Die­se Tei­le wir­ken durch gemein­sa­me Regeln und Stan­dards im Ver­bund­sys­tem zusam­men. Die Regeln basie­ren dabei auf gemein­sa­men Ziel­grö­ßen für Dezen­tra­li­sie­rung, Defos­si­li­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung und Demo­kra­ti­sie­rung. Die­se Zie­le sind mit Anfor­de­run­gen zur Par­ti­zi­pa­ti­on, Ver­sor­gungs­si­cher­heit, CO2-Reduk­ti­on und Wirt­schaft­lich­keit zu verbinden.

Die­se Kopp­lung von Auto­no­mie und Ver­bund benö­tigt die Fle­xi­bi­li­tät der Teil­sys­te­me — den Zel­len — als eine Art vir­tu­el­le Spei­cher mit zeit­lich varia­blem Ver­hal­ten. Kern­be­stand­teil die­ser Zel­len sind auto­no­me Ener­gie­kon­zep­te und dezen­tra­le Ener­gie­ge­win­nung, der digi­ta­le Netz­an­schluss mit Smart Grid Gate­way und loka­lem Ener­gie­ma­nage­ment­sys­tem.

 

Abbau von Bürokratie und Bauhaus 2.0 als Think Tank für Praktiker

Wel­chen Rah­men soll­te nun Poli­tik auf Grund­la­ge wel­cher Ziel­stel­lun­gen und Anfor­de­run­gen gestal­ten? Wie gelangt das Bewusst­sein für Hand­lungs­op­tio­nen in die Brei­te der Gesellschaft?

Es ist not­wen­dig, dass Poli­tik erkennt, dass weni­ger tech­ni­sche Detail­re­gu­lie­rung, Abbau von Büro­kra­tie sowie Ent­schla­ckung von Geset­zen und Regu­la­ri­en mehr im Ergeb­nis beim Umbau des Ener­gie­sys­tems sein kann. Vor­ran­gig soll­te es poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern dar­um gehen, auf Grund­la­ge gemein­sa­mer Zie­le sowie eines gemein­sa­men Rah­mens Hand­lungs­op­tio­nen für alle Akteu­re der Gesell­schaft zu ver­brei­ten. Dabei sind sowohl die ener­gie­tech­ni­sche Ebe­ne, die Auf­ga­ben der Digi­ta­li­sie­rung, der Ener­gie­markt sowie die sozio­kul­tu­rel­le und sozio­öko­no­mi­sche Gestal­tungs­ebe­ne der Men­schen in ihrem Lebens­um­feld zu adressieren.

Vor­ge­schla­gen wird des­halb eine Insti­tu­ti­on unter dem Arbeits­ti­tel Bau­haus 2.0, das sowohl als Think Tank für Prak­ti­ker, als Stu­dio der Lösungs­bei­spie­le zur Ver­brei­tung von Mög­lich­kei­ten sowie zum trans­dis­zi­pli­nä­ren Aus­tausch wir­ken kann.

Andre­as Kieß­ling, ener­gy design,  Lei­men / Hei­del­berg — 21. Sep­tem­ber 2021

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


zwei × 3 =