Energiewende — Paradigmenwechsel bei der Gestaltung vom Energiesystem der Zukunft
Auslöser der Energiewende war die Anforderung, ein mit fossilen und nuklearen Brennstoffen betriebenes sowie zentral geführtes und planbares Energiesystem auf ein erneuerbares und in der Erzeugung schwankendes System zu überführen. Aber schnell wurde klar, dass Erneuerbare Energien völlig neue Chancen für Bürger, die Unternehmen, Kommunen und Regionen bieten, wenn die Möglichkeiten dieser Quellen regional entfaltet werden. Die zusätzlich aufkommenden neuen Verfahren zur Energiespeicherung sowie zur Kopplung der Energiekreisläufe für Strom, Wärme und Mobilität führten bald zur Erschließung der Potentiale autonomer Energiekreisläufe und neuer Gestaltungsmöglichkeiten von Landschaften, Stadtquartieren, Industriearealen sowie von Gebäuden. Aus dem zentral geführten einheitlichen Energiesystem entwickelte sich zunehmend ein Energiesystem aus eingelagerten Energiesystemen, ein Verbund von eigenständigen Energiesystemen mit vielfältigen Einsatzzwecken von der Strom- und Wärmebereitstellung in der Wohnung, über ein nachhaltige Mobilität bis zur Meerwasserentsalzung.
Herausforderungen des Paradigmenwechsels
Es wurde vielfach die Frage aufgeworfen, inwiefern der dezentrale Ansatz das Optimum für das gesamte Energiesystem darstellt. Es ist zu hinterfragen, wie das volkswirtschaftliche Optimum definiert wird. Integriert eine derartige Betrachtung alle gesellschaftlichen Aspekte? Bezogen auf die volkswirtschaftliche Sicht werden oft kontroverse und die Bevölkerung verunsichernde Kostendiskussionen ausgetragen. Dagegen werden gesellschaftliche Aspekte der Chancen erneuerbarer Energien bei einer zunehmend dezentraler aufgestellten Energieversorgung oft vernachlässigt. Gerechtigkeits- und Beteiligungsaspekte der Mitgestaltung von Energiekreisläufen, die die Grundlage des menschlichen Lebens bilden, fanden nur zögerlich Beachtung in der Politik. Gerade hier bestehen aber die Möglichkeiten, vielfältige Aktivitäten der Menschen und Unternehmen für den Erfolg der Energiewende auszulösen.
Die erneuerbaren Energien eröffnen Chancen für neue, subsidiär gestaltete Formen des Zusammenwirkens unterschiedlichster Akteure. Es entwickeln sich vielseitige Formen dezentraler Extraktion von Energie bis in die Gebäude. Dies eröffnet wiederum neue Möglichkeiten der Gestaltung von Gebäuden und Landschaften, die als energetisch aktive Systeme eigenständig Energie gewinnen, speichern und nutzen, Energieflüsse optimieren aber auch Energie austauschen können. Eine bisher vorrangig statische Betrachtung im gestalterischen Prozess gewinnt zunehmend eine dynamische Komponente. Die Entwicklung von Energielandschaften erfordert deshalb eine neue Methodik, um die Gestaltung von interagierenden Räumen (Gebäude, Siedlungsgebiete) als verbundene Prosumenten (Produzenten und Konsumenten) im Energiesystem zu ermöglichen.
Damit entsteht ein deutlich komplexeres System in höherer Vielfalt, Verbundenheit und Organisiertheit als das bisher einfach strukturierte Energiesystem. Mit hoher Komplexität eines Systems, dessen Berechenbarkeit auf Basis der heutigen, zentralen Steuerungslogik abnimmt und das damit eher als selbst organisierendes, dynamisches System autonomer Teilbereiche zu betrachten ist, tut sich Technik und Politik aber noch schwer. Technik strebt berechenbare, relativ einfache Systeme an. Um besteuern zu können, benötigt die Politik ein kontrollierbares System. Komplexität als Grundlage sich entwickelnder dynamischer Systeme basiert aber auf Vielfalt und damit auf Differenzierung, die bezüglich ihrer Entwicklung nicht mehr vollständig kontrollierbar ist. Entwicklung erfordert also einen notwendigen Grad an Unordnung. Um die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung zu beherrschen, bietet die Komplexitätstheorie Lösungsansätze mit selbst regelnden Systemen, die im Verbund über Schnittstellen mit einfachen Regeln miteinander interagieren. Dies ist Grundlage des Energiesystems mit der zellularen Architektur.
Energiesystem mit selbst optimierenden Zellen im Energieorganismus
Auslöser war am Anfang ein äußerst metaphorischer jedoch gleichzeitig extrem produktiver Begriff des Energieorganismus. Ein Organismus steht sinnbildlich für eine komplexe Form eines einzelnen Betriebssystems, das auf Basis energetischer und kommunikativer als auch logistischer Infrastrukturen seine Existenz gewährleistet. In einem Organismus befindet sich alles im Fluss, und wiederum befindet sich jener Organismus im Fluss seiner Umwelt. Obwohl die Gesamtheit der uns zur Verfügung stehenden Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann (Energieerhaltungssatz), befindet sich das, was wir Energie nennen, in einem stetigen Umwandlungsprozess.
Um die obige Beschreibung autonomer Energiesysteme als Bestandteil eines Energiesystems aufzunehmen, wird hier ein singuläres Energiesystem als eine Zelle im Energieorganismus beschrieben. Diese autonome Struktur bildet ein sich selbst optimierendes System eines Lebensraumes (z.B. Gebäude, Stadtteil, Stadt, Region, Staat sowie transnationaler Raum), das jederzeit und an jedem Ort über die Potentiale und Zustände von Energiegewinnung, Speicherung und seine Bedarfe an Energie Kenntnis besitzt sowie für den Ausgleich von Differenzen in Gewinnung und Bedarf sorgen kann. Die Energieflüsse werden dabei durch eine im System integrierte Infrastruktur gesteuert. Ein Verbund solcher Energiezellen in Form autonomer Energiesysteme bildet als Domäne ein System der höheren Ebene (z.B. Verbund von Gebäuden in eine Stadtgebiet), wobei die Vernetzung der Zellen in dieser Domäne wiederum durch eine Infrastruktur erfolgt. Insofern ist durch Bildung von Domänen auf immer höher angesiedelten Systemebenen die Entwicklung eines Energieorganismus möglich, in dem sich subsidiäre Energiekonzepte in Wohnräumen und städtischen Lebensräumen mit den Bestrebungen nach europäischen Energiesystemen zur umfassenden Raumentwicklung in interkontinentaler Verbindung nach Nordafrika und Asien integrieren.
Eine Domäne besteht als selbstoptimierendes System wiederum aus Systemen, wobei jedes System eine interne Infrastruktur besitzt sowie durch eine externe Infrastruktur die Fähigkeit zur Vernetzung mit anderen Systemen besitzt.
Die Infrastruktur zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass auf der Basis von Informationsflüssen die Energieflüsse zu jeder Zeit und an jedem Ort jeweils zum Ausgleich zwischen Energiegewinnung und Energiebedarf geregelt werden können. Energiepotentiale und ‑flüsse auf der Grundlage von Erneuerbaren Energien, die über Energieinfrastrukturen verteilt werden, sind somit über Kommunikationsinfrastrukturen als Informationsflüsse zu verbreiten. Die Annäherung von Erneuerbaren Energien und Kommunikationsregimen wurde entsprechend durch Jeremy Rifkin im Aufsatz „Die Führung des Weges zur dritten industriellen Revolution“ im Jahre 2008 beschrieben.
Andreas Kießling, 2017, Leimen