Autonomie in Zellen

Wiedererlangung von Autonomie

Die Welt konn­te sich durch die Her­stel­lung von Dif­fe­ren­zen ent­wi­ckeln. Aus einem völ­lig sym­me­tri­schen Zustand ent­stan­den Unter­schie­de in einem Pro­zess, den wir Urknall nen­nen. War­um dies geschah wis­sen wir nicht. Wir wis­sen auch nicht, was vor­her war. Tat­sa­che ist, dass die Ent­ste­hung von Unter­schie­den in einem vor­her völ­lig ver­schränk­ten Sys­tem — in dem alles mit allem ver­bun­den war, wo Raum und Zeit nicht exis­tier­te — Poten­tia­le für Ener­gie­flüs­se eröff­ne­te und damit Ent­wick­lung ermög­lich­te, wodurch Raum und Zeit ent­fal­tet wur­den. Nun wird sich der Leser fra­gen, wie dies das The­ma Auto­no­mie berührt?

Dabei ist zuerst zu bemer­ken, dass die Auf­he­bung der völ­li­gen Ver­bun­den­heit zu Auto­no­mie führt.

Voll­stän­di­ge Auto­no­mie kann aber auch nicht das Ziel die­ser Welt sein, denn dies bewirkt die Zer­streu­ung der Bestand­tei­le des Gan­zen. Zer­streu­ung fas­sen die Phy­si­ker mit dem Begriff Entro­pie. Die­ser Aus­druck umfasst den grund­le­gen­den Wär­me­ge­halt der Welt aus sich chao­tisch bewe­gen­den Ein­zel­teil­chen. Die­ses Wär­me­bad der Welt weist kei­ne Dif­fe­ren­zen mehr auf und kann des­halb nicht für gestal­te­ri­sche Ent­wick­lun­gen auf Grund­la­ge von durch Dif­fe­ren­zen ent­ste­hen­den Ener­gie­flüs­sen genutzt werden.

Phy­si­ker des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts spra­chen hier vom Wär­me­tod des Welt­alls, in dem jede Ent­wick­lung ver­lo­ren geht.

Glück­li­cher­wei­se fol­gen aus der frü­he­ren Ver­bun­den­heit schöp­fe­ri­sche Pro­zes­se, die der Zer­streu­ung ent­ge­gen­wir­ken und wie­der neue Struk­tu­ren gestal­ten. Die­se schöp­fe­ri­sche Kraft kann aber nur wir­ken, weil Auto­no­mie seit dem Urknall exis­tiert. Ohne Auto­no­mie wäre die­se schöp­fe­ri­sche Kraft ein­fach exis­tent, aber wir­kungs­los. Still wür­de der Geist ruhen.

Wie auch immer wir nun die­se schöp­fe­ri­sche Ursa­che nen­nen, die heu­te für uns noch rät­sel­haft bleibt, erscheint offen­sicht­lich, dass wir unse­re Exis­tenz dem Wech­sel­spiel von schöp­fe­ri­scher Kraft und Wär­me­tod zu ver­dan­ken haben. Ver­schie­de­ne phi­lo­so­phi­sche und reli­giö­se Rich­tun­gen nut­zen unter­schied­li­che Begrif­fe. Bud­dhis­ten wür­den die­sen Geist Dhar­ma­ka­ya nen­nen. Chris­ten nut­zen den Begriff Hei­li­ger Geist. Eso­te­ri­ker spre­chen auch von all­um­fas­sen­der Vernunft.

Aber wie steht es mit unse­rer indi­vi­du­el­len Ver­nunft in der Autonomie?

Wir kön­nen natür­lich nicht die Augen davor ver­schlie­ßen, dass indi­vi­du­el­le Ver­nunft in ihrem Bestre­ben, indi­vi­du­el­le Vor­tei­le in der Auto­no­mie zu maxi­mie­ren, viel Leid und Scha­den berei­tet hat.

Aber gleich­zei­tig waren Unter­schie­de und Auto­no­mie in den Lebens­wei­sen auch Trei­ber für Ent­wick­lung von Gesell­schaf­ten, weil Unter­schie­de Ener­gie­flüs­se eröff­nen, wie hier schon begründet.

Was bedeu­tet es aber statt­des­sen gren­zen­lo­se Ver­net­zung zu schaf­fen und all unser Wis­sen und Sein in eine gemein­schaft­li­che Cloud ein­zu­brin­gen, indem wir die Akti­vi­tä­ten in sozia­len Medi­en maxi­mie­ren, wie dies Unter­neh­men am Bei­spiel von Goog­le und Face­book von uns erwar­ten? Hier­mit schaf­fen wir Auto­no­mie zuguns­ten der völ­li­gen Ver­schrän­kung ab und neh­men uns die Dif­fe­ren­zen sowie damit die Poten­tia­le und hier­aus fol­gend die Ener­gie­flüs­se für Ent­wick­lung. Der Roman “Der Cir­cle” von Dave Eggers führt die Visi­on genann­ter Unter­neh­men in eine umfas­sen­de Form und zeigt damit die Gefah­ren des Ver­schwin­dens von Auto­no­mie bei voll­stän­di­ger Ver­net­zung in beein­dru­cken­der Form.

Hier soll nicht beur­teilt wer­den, wel­cher Grad von Auto­no­mie oder Ver­bun­den­heit sinn­voll ist. Dar­über kann erst die Geschich­te urtei­len. Aber die Ein­füh­rung auf Basis der Dar­stel­lung der Ent­wick­lungs­grund­la­gen die­ser Welt soll­te klar­stel­len, dass wir Ver­bun­den­heit und Auto­no­mie benö­ti­gen. Es geht also im Zusam­men­hang mit den sich beschleu­ni­gen­den Pro­zes­sen der Glo­ba­li­sie­rung und der Ver­net­zung im Inter­net dar­um, das Wech­sel­spiel zwi­schen Ver­net­zung und Auto­no­mie neu zu defi­nie­ren und in einem stän­di­gen Pro­zess zu gestal­ten. Gera­de in der Zeit neu­er Chan­cen durch Digi­ta­li­sie­rung auf Basis des Inter­nets und vir­tu­el­ler Clouds der Gemein­schaft soll­ten wir inten­siv die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten zur Wie­der­erlan­gung von Auto­no­mie entwickeln.

Dies gilt ins­be­son­de­re für die Infra­struk­tu­ren unse­rer Gesell­schaft. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Infra­struk­tur ermög­licht gren­zen­lo­se Infor­ma­ti­ons­flüs­se, soll­te aber auch Gren­zen der Infor­ma­ti­ons­flüs­se für Indi­vi­du­en und gesell­schaft­li­che Grup­pen ermög­li­chen. Eben­so kön­nen Ener­gie-Infra­struk­tu­ren gren­zen­lo­se Ener­gie­flüs­se ermög­li­chen, soll­ten aber auch auto­no­me Ener­gie­kreis­läu­fe ermöglichen.

Nicht umsonst orga­ni­sier­te die Natur das Leben in zel­lu­la­ren Struk­tu­ren, um das Wech­sel­spiel von Auto­no­mie und Ver­bun­den­heit zu ermög­li­chen. Es lohnt sich also das Bild der Zel­len in der Gestal­tung des Ver­hält­nis­ses von Auto­no­mie und Ver­bun­den­heit inner­halb der mensch­li­chen Kul­tur zu nut­zen, um die Dis­kus­si­on um Diens­te in der Cloud, um die Ent­wick­lung der Infra­struk­tu­ren für Ener­gie und Kom­mu­ni­ka­ti­on sowie die Mög­lich­kei­ten zur Erhal­tung von Indi­vi­dua­li­tät, Pri­vat­heit und Daten­schutz anzuregen.

An die­ser Stel­le kön­nen wir noch ein­mal die Ana­lo­gie zur moder­nen Phy­sik suchen. Erst das Unbe­kann­te und damit der Zufall ermög­licht Ent­schei­dungs­frei­heit und krea­ti­ve Gestal­tungs­pro­zes­se. In der Quan­ten­phy­sik eröff­net das Unbe­kann­te Mög­lich­kei­ten. In der Beob­ach­tung ver­geht die Wahl­frei­heit und fixe Zustän­de wer­den ein­ge­nom­men. Ein­stein sag­te ein­mal wäh­rend des Ent­ste­hens der Quan­ten­phy­sik: „Gott wür­felt nicht“. Aber hier irr­te der gro­ße Meis­ter. Gera­de im Wür­feln lie­gen die viel­fäl­ti­gen Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten. Eine von Goog­le ange­dach­te voll­stän­di­ge Algo­rith­mi­sie­rung der Welt redu­ziert Wahl­mög­lich­kei­ten zuguns­ten einer angeb­lich logi­schen, mecha­ni­schen Ent­wick­lung und nimmt damit die Viel­falt der Mög­lich­kei­ten zur Ent­fal­tung des Lebens. Die Welt exis­tiert im Zwi­schen­raum von Zufall und Algo­rith­mi­sie­rung und bei allen Chan­cen der Ver­net­zung müs­sen wir uns die­sen Zwi­schen­raum erhal­ten, um Wei­ter­ent­wick­lung zu ermöglichen.

Auf Grund­la­ge die­ses Ver­ständ­nis­ses der Ent­wick­lungs­pro­zes­se in der Welt erge­ben sich logisch hier zitier­te For­de­run­gen aus dem schon genann­ten Buch von Dave Eggers:

Wir müs­sen alle das Recht auf Anony­mi­tät haben. Nicht jede mensch­li­che Akti­vi­tät ist mess­bar. Die stän­di­ge Jagd nach Daten, um den Wert eines jeden Vor­ha­bens zu quan­ti­fi­zie­ren, ist kata­stro­phal für wah­res Ver­ständ­nis. Die Gren­ze zwi­schen Öffent­li­chem und Pri­va­tem muss unüber­wind­lich blei­ben. Wir müs­sen alle das Recht haben, zu verschwinden.“

Andre­as Kieß­ling, 25. August 2015

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