Wiedererlangung von Autonomie

Wir müssen alle das Recht haben, zu verschwinden.

Autonomie in Zellen
Autonome Zellen im Energieorganismus. copyright © Andreas Kießling & Gunnar Hartmann, 2013

Die Welt konn­te sich durch die Her­stel­lung von Dif­fe­ren­zen ent­wi­ckeln. Aus einem völ­lig sym­me­tri­schen Zustand ent­stan­den Unter­schie­de in einem Pro­zess, den wir Urknall nen­nen. War­um dies geschah wis­sen wir nicht. Wir wis­sen auch nicht, was vor­her war. Tat­sa­che ist, dass die Ent­ste­hung von Unter­schie­den in einem vor­her völ­lig ver­schränk­ten Sys­tem — in dem alles mit allem ver­bun­den war, wo Raum und Zeit nicht exis­tier­te — Poten­tia­le für Ener­gie­flüs­se eröff­ne­te und damit Ent­wick­lung ermög­lich­te, wodurch Raum und Zeit ent­fal­tet wur­den. Nun wird sich der Leser fra­gen, wie dies das The­ma Auto­no­mie berührt?

Dabei ist zuerst zu bemer­ken, dass die Auf­he­bung der völ­li­gen Ver­bun­den­heit zu Auto­no­mie führt.

Voll­stän­di­ge Auto­no­mie kann aber auch nicht das Ziel die­ser Welt sein, denn dies bewirkt die Zer­streu­ung der Bestand­tei­le des Gan­zen. Zer­streu­ung fas­sen die Phy­si­ker mit dem Begriff Entro­pie. Die­ser Aus­druck umfasst den grund­le­gen­den Wär­me­ge­halt der Welt aus sich chao­tisch bewe­gen­den Ein­zel­teil­chen. Die­ses Wär­me­bad der Welt weist kei­ne Dif­fe­ren­zen mehr auf und kann des­halb nicht für gestal­te­ri­sche Ent­wick­lun­gen auf Grund­la­ge von durch Dif­fe­ren­zen ent­ste­hen­den Ener­gie­flüs­sen genutzt werden.

Phy­si­ker des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts spra­chen hier vom Wär­me­tod des Welt­alls, in dem jede Ent­wick­lung ver­lo­ren geht.

Glück­li­cher­wei­se fol­gen aus der frü­he­ren Ver­bun­den­heit schöp­fe­ri­sche Pro­zes­se, die der Zer­streu­ung ent­ge­gen­wir­ken und wie­der neue Struk­tu­ren gestal­ten. Die­se schöp­fe­ri­sche Kraft kann aber nur wir­ken, weil Auto­no­mie seit dem Urknall exis­tiert. Ohne Auto­no­mie wäre die­se schöp­fe­ri­sche Kraft ein­fach exis­tent, aber wir­kungs­los. Still wür­de der Geist ruhen.

Wie auch immer wir nun die­se schöp­fe­ri­sche Ursa­che nen­nen, die heu­te für uns noch rät­sel­haft bleibt, erscheint offen­sicht­lich, dass wir unse­re Exis­tenz dem Wech­sel­spiel von schöp­fe­ri­scher Kraft und Wär­me­tod zu ver­dan­ken haben. Ver­schie­de­ne phi­lo­so­phi­sche und reli­giö­se Rich­tun­gen nut­zen unter­schied­li­che Begrif­fe. Bud­dhis­ten wür­den die­sen Geist Dhar­ma­ka­ya nen­nen. Chris­ten nut­zen den Begriff Hei­li­ger Geist. Eso­te­ri­ker spre­chen auch von all­um­fas­sen­der Vernunft.

Aber wie steht es mit unse­rer indi­vi­du­el­len Ver­nunft in der Autonomie?

Wir kön­nen natür­lich nicht die Augen davor ver­schlie­ßen, dass indi­vi­du­el­le Ver­nunft in ihrem Bestre­ben, indi­vi­du­el­le Vor­tei­le in der Auto­no­mie zu maxi­mie­ren, viel Leid und Scha­den berei­tet hat.

Aber gleich­zei­tig waren Unter­schie­de und Auto­no­mie in den Lebens­wei­sen auch Trei­ber für Ent­wick­lung von Gesell­schaf­ten, weil Unter­schie­de Ener­gie­flüs­se eröff­nen, wie hier schon begründet.

Was bedeu­tet es aber statt­des­sen gren­zen­lo­se Ver­net­zung zu schaf­fen und all unser Wis­sen und Sein in eine gemein­schaft­li­che Cloud ein­zu­brin­gen, indem wir die Akti­vi­tä­ten in sozia­len Medi­en maxi­mie­ren, wie dies Unter­neh­men am Bei­spiel von Goog­le und Face­book von uns erwar­ten? Hier­mit schaf­fen wir Auto­no­mie zuguns­ten der völ­li­gen Ver­schrän­kung ab und neh­men uns die Dif­fe­ren­zen sowie damit die Poten­tia­le und hier­aus fol­gend die Ener­gie­flüs­se für Ent­wick­lung. Der Roman “Der Cir­cle” von Dave Eggers führt die Visi­on genann­ter Unter­neh­men in eine umfas­sen­de Form und zeigt damit die Gefah­ren des Ver­schwin­dens von Auto­no­mie bei voll­stän­di­ger Ver­net­zung in beein­dru­cken­der Form.

Hier soll nicht beur­teilt wer­den, wel­cher Grad von Auto­no­mie oder Ver­bun­den­heit sinn­voll ist. Dar­über kann erst die Geschich­te urtei­len. Aber die Ein­füh­rung auf Basis der Dar­stel­lung der Ent­wick­lungs­grund­la­gen die­ser Welt soll­te klar­stel­len, dass wir Ver­bun­den­heit und Auto­no­mie benö­ti­gen. Es geht also im Zusam­men­hang mit den sich beschleu­ni­gen­den Pro­zes­sen der Glo­ba­li­sie­rung und der Ver­net­zung im Inter­net dar­um, das Wech­sel­spiel zwi­schen Ver­net­zung und Auto­no­mie neu zu defi­nie­ren und in einem stän­di­gen Pro­zess zu gestal­ten. Gera­de in der Zeit neu­er Chan­cen durch Digi­ta­li­sie­rung auf Basis des Inter­nets und vir­tu­el­ler Clouds der Gemein­schaft soll­ten wir inten­siv die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten zur Wie­der­erlan­gung von Auto­no­mie entwickeln.

Dies gilt ins­be­son­de­re für die Infra­struk­tu­ren unse­rer Gesell­schaft. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Infra­struk­tur ermög­licht gren­zen­lo­se Infor­ma­ti­ons­flüs­se, soll­te aber auch Gren­zen der Infor­ma­ti­ons­flüs­se für Indi­vi­du­en und gesell­schaft­li­che Grup­pen ermög­li­chen. Eben­so kön­nen Ener­gie-Infra­struk­tu­ren gren­zen­lo­se Ener­gie­flüs­se ermög­li­chen, soll­ten aber auch auto­no­me Ener­gie­kreis­läu­fe ermöglichen.

Nicht umsonst orga­ni­sier­te die Natur das Leben in zel­lu­la­ren Struk­tu­ren, um das Wech­sel­spiel von Auto­no­mie und Ver­bun­den­heit zu ermög­li­chen. Es lohnt sich also das Bild der Zel­len in der Gestal­tung des Ver­hält­nis­ses von Auto­no­mie und Ver­bun­den­heit inner­halb der mensch­li­chen Kul­tur zu nut­zen, um die Dis­kus­si­on um Diens­te in der Cloud, um die Ent­wick­lung der Infra­struk­tu­ren für Ener­gie und Kom­mu­ni­ka­ti­on sowie die Mög­lich­kei­ten zur Erhal­tung von Indi­vi­dua­li­tät, Pri­vat­heit und Daten­schutz anzuregen.

An die­ser Stel­le kön­nen wir noch ein­mal die Ana­lo­gie zur moder­nen Phy­sik suchen. Erst das Unbe­kann­te und damit der Zufall ermög­licht Ent­schei­dungs­frei­heit und krea­ti­ve Gestal­tungs­pro­zes­se. In der Quan­ten­phy­sik eröff­net das Unbe­kann­te Mög­lich­kei­ten. In der Beob­ach­tung ver­geht die Wahl­frei­heit und fixe Zustän­de wer­den ein­ge­nom­men. Ein­stein sag­te ein­mal wäh­rend des Ent­ste­hens der Quan­ten­phy­sik: „Gott wür­felt nicht“. Aber hier irr­te der gro­ße Meis­ter. Gera­de im Wür­feln lie­gen die viel­fäl­ti­gen Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten. Eine von Goog­le ange­dach­te voll­stän­di­ge Algo­rith­mi­sie­rung der Welt redu­ziert Wahl­mög­lich­kei­ten zuguns­ten einer angeb­lich logi­schen, mecha­ni­schen Ent­wick­lung und nimmt damit die Viel­falt der Mög­lich­kei­ten zur Ent­fal­tung des Lebens. Die Welt exis­tiert im Zwi­schen­raum von Zufall und Algo­rith­mi­sie­rung und bei allen Chan­cen der Ver­net­zung müs­sen wir uns die­sen Zwi­schen­raum erhal­ten, um Wei­ter­ent­wick­lung zu ermöglichen.

Auf Grund­la­ge die­ses Ver­ständ­nis­ses der Ent­wick­lungs­pro­zes­se in der Welt erge­ben sich logisch hier zitier­te For­de­run­gen aus dem schon genann­ten Buch von Dave Eggers:

Wir müs­sen alle das Recht auf Anony­mi­tät haben. Nicht jede mensch­li­che Akti­vi­tät ist mess­bar. Die stän­di­ge Jagd nach Daten, um den Wert eines jeden Vor­ha­bens zu quan­ti­fi­zie­ren, ist kata­stro­phal für wah­res Ver­ständ­nis. Die Gren­ze zwi­schen Öffent­li­chem und Pri­va­tem muss unüber­wind­lich blei­ben. Wir müs­sen alle das Recht haben, zu verschwinden.“

Andre­as Kieß­ling, 25. August 2015

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

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