Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit

Überlegungen zum Primat im gesellschaftlichen Handlungskontext

Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit
Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit in der nachhaltigen Stadt - Shiny Things. [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)]

Diskussion um Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit

Der in der letz­ten Kolum­ne genutz­te Begriff „Lebens­dien­lich­keit“ lös­te die beab­sich­tig­te Dis­kus­si­on aus. Auf­grund der dabei ver­zeich­ne­ten Miss­ver­ständ­nis­se soll an die­ser Stel­le der Hin­ter­grund des Begrif­fes noch ein­mal deut­li­cher dar­ge­stellt werden.

Es wur­de der Vor­rang der Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit gegen­über Markt- und Netz­dien­lich­keit pos­tu­liert. Dar­über hin­aus fin­det in der Ener­gie­wirt­schaft noch der Begriff Sys­temdien­lich­keit Anwendung.

Die­ser Grund­satz führ­te zu Wider­spruch. Ein Kom­men­tar qua­li­fi­zier­te die Aus­sa­ge als „typisch deut­sche Vor­stel­lung, dass man einen Anspruch auf irgend­et­was hät­te“. Das Geben und Neh­men in der Gesell­schaft wur­de eingefordert.

Dazu ist zuerst fest­zu­stel­len, dass das Pos­tu­lat nicht Markt und Netz­dien­lich­keit in Fra­ge stellt. Es ging dar­um auf­zu­zei­gen, dass die Dis­kus­si­on zur Ener­gie­wen­de oft am The­ma vor­bei­geht. Viel zu kurz kom­men die durch die Ener­gie­wen­de gebo­te­nen Chan­cen für Bür­ger und Regionen.

Die Ver­ant­wor­tung des Men­schen als sozia­les Wesen für die Gemein­schaft steht außer Fra­ge. Dabei wäre aber noch zu defi­nie­ren, was wir als Gemein­schaft, für die wir uns ver­ant­wort­lich füh­len, defi­nie­ren. Endet unser Gemein­schafts­den­kens an den Gren­zen der Fami­lie, unse­res pri­va­ten und beruf­li­chen Lebens­um­fel­des, an den Gren­zen der Stadt, der Regi­on oder des Lan­des. Oder zählt dazu auch die euro­päi­sche oder die glo­ba­le Gemein­schaft unse­res Planeten?

Gemein­schafts­den­ken wird mit Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nicht in Fra­ge gestellt. Der Dis­kus­si­ons­bei­trag soll­te viel­mehr in pro­vo­kan­ter Wei­se nach dem Pri­mat des gesell­schaft­li­chen Han­delns fragen.

Des­halb möch­te ich es nach­fol­gend noch ein­mal deut­li­cher formulieren.

 

Gestaltungshoheit und Solidarität

Das Ener­gie­sys­tem hat dem Men­schen zu die­nen und nicht der Mensch dem Ener­gie­sys­tem. Mit die­ser Rang­fol­ge folgt in logi­scher Wei­se, dass Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit, aber nicht die Netz- und Markt­dien­lich­keit im Vor­der­grund ste­hen. Natür­lich besitzt die Gestal­tung des Ener­gie­sys­tems auch einen soli­da­ri­schen Aspekt. Inso­fern ist es wich­tig, dass wir als Gemein­schaft an die­sem Pro­jekt wir­ken und unse­re Ver­ant­wor­tung zur Sta­bi­li­tät des Gesamt­sys­tems wahr­neh­men. Wich­tig ist nur zu erken­nen, war­um wir uns an die­sem gemein­schaft­li­chen Sys­tem betei­li­gen. Das Sys­tem ent­steht, weil es unser aller Leben dient und nicht, weil das Sys­tem und die dafür benö­tig­ten Unter­neh­men sich selbst nüt­zen. Somit sind Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nicht der Markt- und Netz­dien­lich­keit unterzuordnen.

Das Pos­tu­lat lässt sich auch anders ausdrücken:

Die Wirt­schaft ist für den Men­schen da und nicht der Mensch für die Wirt­schaft. Ansons­ten leben wir in der fal­schen Gesell­schaft. Die Nütz­lich­keit der Wirt­schaft für Men­schen schließt das Gemein­wohl ein. Aber Men­schen sind nicht nütz­li­che Mit­tel im Sys­tem der Unter­neh­men! Dann ist Gemein­wohl und Soli­da­ri­tät ein vor­ge­scho­be­nes Argu­ment, da Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nur dem wirt­schaft­li­chen Erfolg von Unter­neh­men unter­ge­ord­net wer­den. Das Ener­gie­sys­tem hat dem Leben der Men­schen zu dienen.

Alles ist für Phy­si­ker Ener­gie. Ener­gie ist die Fähig­keit zur Ver­rich­tung von Arbeit und ermög­licht Leben. Des­halb steht Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit im Vor­der­grund. Dies schließt die markt- und netz­dien­li­che Orga­ni­sa­ti­on nicht aus. Es geht mit der Aus­sa­ge nur dar­um, was pri­mär und was sekun­där ist. Wir bau­en kein Ener­gie­sys­tem, damit Unter­neh­men Geld ver­die­nen, son­dern das Ener­gie­sys­tem ent­steht, damit Men­schen ein bes­se­res Leben füh­ren kön­nen. Die­ser pri­mä­re Ansatz ermög­licht in sekun­dä­rer Wei­se, Unter­neh­men Geld zu ver­die­nen. Dar­aus ist aber nicht zu schluss­fol­gern, dass der Mensch sich die­sem Wirt­schafts­sys­tem unter­ord­nen muss, son­dern nur, dass der Mensch die Sys­tem­nütz­lich­keit im Sin­ne der Gemein­schaft auch unterstützt.

 

Veränderte Wahrnehmung

Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit umfasst eine wei­te­re Hand­lungs­di­men­si­on. Mit der Neu­ge­stal­tung des Ener­gie­sys­tems sind die Lebens­be­din­gun­gen für alle Men­schen zu erhal­ten. Hier stellt sich die Fra­ge, wer die pri­mär han­deln­den Akteu­re sind. Bei nähe­rer Betrach­tung stellt man fest, dass die Ener­gie­wen­de von einem hohen Grad der Betei­li­gung aller gesell­schaft­li­cher Grup­pen getra­gen wird. Dies stellt eine neue Qua­li­tät gegen­über der bis­he­ri­gen Gestal­tung des Ener­gie­sys­tems durch weni­ge zen­tral agie­ren­de Akteu­re dar.

Zwar kann der Ein­zel­ne nur im beschei­de­nen Aus­maß den Kli­ma­wan­del ver­hin­dern. Allein auf der Basis der Kli­ma­dis­kus­si­on sind die Men­schen schwer für die not­wen­di­ge Ener­gie­wen­de zu gewinnen.

Aber mit Erneu­er­ba­ren Ener­gien reif­te schnell die Erkennt­nis der Chan­cen, die Lebens­dien­lich­keit des Ener­gie­sys­tems in eige­ner Gestal­tungs­ho­heit zu ent­wi­ckeln. Die Mög­lich­kei­ten der Dezen­tra­li­sie­rung, der Selbst­ge­stal­tung von Ener­gie­kreis­läu­fen durch Bür­ger und Unter­neh­men im Lebens- und Arbeits­um­feld, in Kom­mu­nen und Regio­nen, der Ver­la­ge­rung der zen­tra­len Wert­schöp­fung in die Kom­mu­nen, des Zusam­men­wir­kens in sozia­len Netz­wer­ken wer­den zuneh­mend in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on um Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit genutzt.

Die Ener­gie­wen­de wur­de ins­be­son­de­re durch den Aus­bau Erneu­er­ba­rer Ener­gien in den Ver­teil­net­zen beför­dert. Aber aus­ge­rech­net die­sen Gestal­tungs­pro­zess nahm Bun­des­re­gie­rung regel­recht „die Luft zum Atmen“.

Gleich­zei­tig wur­de aber allen gesell­schaft­li­chen Akteu­ren ver­stärkt bewusst, wie ver­letz­lich die Erde ist und wie radi­kal schnell der Wan­del vor sich geht. Es ist eine gro­ße Hoff­nung, dass gera­de die Jugend mit der Bewe­gung „Fri­days For Future“ die­sen Pro­zess ver­stan­den hat.

Inso­fern sind auch in der Kli­ma­dis­kus­si­on mit den Ziel­stel­lun­gen zur Reduk­ti­on des Aus­stos­ses an Koh­len­di­oxid die The­men Dezen­tra­li­sie­rung, Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit zur pri­mä­ren Hand­lungs­grund­la­ge geworden.

Der Auf­schwung der Grü­nen bei der Wäh­ler­un­ter­stüt­zung zeigt, dass mit die­sem The­ma die Men­schen grund­le­gend erreicht wer­den. Natür­lich bewirkt Deutsch­land nur 2 % des welt­wei­ten CO2-Aus­stos­ses. Aber wenn jedes Land nur auf ande­re Län­der zeigt, lässt sich das Pro­blem nie in der Gemein­schaft lösen. Inso­fern sind Vor­rei­ter und Vor­bil­der gefragt.

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


sechzehn − eins =