Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit

Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit

Diskussion um Lebensdienlichkeit und Gestaltungshoheit

Der in der letz­ten Kolum­ne genutz­te Begriff „Lebens­dien­lich­keit“ lös­te die beab­sich­tig­te Dis­kus­si­on aus. Auf­grund der dabei ver­zeich­ne­ten Miss­ver­ständ­nis­se soll an die­ser Stel­le der Hin­ter­grund des Begrif­fes noch ein­mal deut­li­cher dar­ge­stellt werden.

Es wur­de der Vor­rang der Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit gegen­über Markt- und Netz­dien­lich­keit pos­tu­liert. Dar­über hin­aus fin­det in der Ener­gie­wirt­schaft noch der Begriff Sys­temdien­lich­keit Anwendung.

Die­ser Grund­satz führ­te zu Wider­spruch. Ein Kom­men­tar qua­li­fi­zier­te die Aus­sa­ge als „typisch deut­sche Vor­stel­lung, dass man einen Anspruch auf irgend­et­was hät­te“. Das Geben und Neh­men in der Gesell­schaft wur­de eingefordert.

Dazu ist zuerst fest­zu­stel­len, dass das Pos­tu­lat nicht Markt und Netz­dien­lich­keit in Fra­ge stellt. Es ging dar­um auf­zu­zei­gen, dass die Dis­kus­si­on zur Ener­gie­wen­de oft am The­ma vor­bei­geht. Viel zu kurz kom­men die durch die Ener­gie­wen­de gebo­te­nen Chan­cen für Bür­ger und Regionen.

Die Ver­ant­wor­tung des Men­schen als sozia­les Wesen für die Gemein­schaft steht außer Fra­ge. Dabei wäre aber noch zu defi­nie­ren, was wir als Gemein­schaft, für die wir uns ver­ant­wort­lich füh­len, defi­nie­ren. Endet unser Gemein­schafts­den­kens an den Gren­zen der Fami­lie, unse­res pri­va­ten und beruf­li­chen Lebens­um­fel­des, an den Gren­zen der Stadt, der Regi­on oder des Lan­des. Oder zählt dazu auch die euro­päi­sche oder die glo­ba­le Gemein­schaft unse­res Planeten?

Gemein­schafts­den­ken wird mit Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nicht in Fra­ge gestellt. Der Dis­kus­si­ons­bei­trag soll­te viel­mehr in pro­vo­kan­ter Wei­se nach dem Pri­mat des gesell­schaft­li­chen Han­delns fragen.

Des­halb möch­te ich es nach­fol­gend noch ein­mal deut­li­cher formulieren.

 

Gestaltungshoheit und Solidarität

Das Ener­gie­sys­tem hat dem Men­schen zu die­nen und nicht der Mensch dem Ener­gie­sys­tem. Mit die­ser Rang­fol­ge folgt in logi­scher Wei­se, dass Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit, aber nicht die Netz- und Markt­dien­lich­keit im Vor­der­grund ste­hen. Natür­lich besitzt die Gestal­tung des Ener­gie­sys­tems auch einen soli­da­ri­schen Aspekt. Inso­fern ist es wich­tig, dass wir als Gemein­schaft an die­sem Pro­jekt wir­ken und unse­re Ver­ant­wor­tung zur Sta­bi­li­tät des Gesamt­sys­tems wahr­neh­men. Wich­tig ist nur zu erken­nen, war­um wir uns an die­sem gemein­schaft­li­chen Sys­tem betei­li­gen. Das Sys­tem ent­steht, weil es unser aller Leben dient und nicht, weil das Sys­tem und die dafür benö­tig­ten Unter­neh­men sich selbst nüt­zen. Somit sind Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nicht der Markt- und Netz­dien­lich­keit unterzuordnen.

Das Pos­tu­lat lässt sich auch anders ausdrücken:

Die Wirt­schaft ist für den Men­schen da und nicht der Mensch für die Wirt­schaft. Ansons­ten leben wir in der fal­schen Gesell­schaft. Die Nütz­lich­keit der Wirt­schaft für Men­schen schließt das Gemein­wohl ein. Aber Men­schen sind nicht nütz­li­che Mit­tel im Sys­tem der Unter­neh­men! Dann ist Gemein­wohl und Soli­da­ri­tät ein vor­ge­scho­be­nes Argu­ment, da Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit nur dem wirt­schaft­li­chen Erfolg von Unter­neh­men unter­ge­ord­net wer­den. Das Ener­gie­sys­tem hat dem Leben der Men­schen zu dienen.

Alles ist für Phy­si­ker Ener­gie. Ener­gie ist die Fähig­keit zur Ver­rich­tung von Arbeit und ermög­licht Leben. Des­halb steht Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit im Vor­der­grund. Dies schließt die markt- und netz­dien­li­che Orga­ni­sa­ti­on nicht aus. Es geht mit der Aus­sa­ge nur dar­um, was pri­mär und was sekun­där ist. Wir bau­en kein Ener­gie­sys­tem, damit Unter­neh­men Geld ver­die­nen, son­dern das Ener­gie­sys­tem ent­steht, damit Men­schen ein bes­se­res Leben füh­ren kön­nen. Die­ser pri­mä­re Ansatz ermög­licht in sekun­dä­rer Wei­se, Unter­neh­men Geld zu ver­die­nen. Dar­aus ist aber nicht zu schluss­fol­gern, dass der Mensch sich die­sem Wirt­schafts­sys­tem unter­ord­nen muss, son­dern nur, dass der Mensch die Sys­tem­nütz­lich­keit im Sin­ne der Gemein­schaft auch unterstützt.

 

Veränderte Wahrnehmung

Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit umfasst eine wei­te­re Hand­lungs­di­men­si­on. Mit der Neu­ge­stal­tung des Ener­gie­sys­tems sind die Lebens­be­din­gun­gen für alle Men­schen zu erhal­ten. Hier stellt sich die Fra­ge, wer die pri­mär han­deln­den Akteu­re sind. Bei nähe­rer Betrach­tung stellt man fest, dass die Ener­gie­wen­de von einem hohen Grad der Betei­li­gung aller gesell­schaft­li­cher Grup­pen getra­gen wird. Dies stellt eine neue Qua­li­tät gegen­über der bis­he­ri­gen Gestal­tung des Ener­gie­sys­tems durch weni­ge zen­tral agie­ren­de Akteu­re dar.

Zwar kann der Ein­zel­ne nur im beschei­de­nen Aus­maß den Kli­ma­wan­del ver­hin­dern. Allein auf der Basis der Kli­ma­dis­kus­si­on sind die Men­schen schwer für die not­wen­di­ge Ener­gie­wen­de zu gewinnen.

Aber mit Erneu­er­ba­ren Ener­gien reif­te schnell die Erkennt­nis der Chan­cen, die Lebens­dien­lich­keit des Ener­gie­sys­tems in eige­ner Gestal­tungs­ho­heit zu ent­wi­ckeln. Die Mög­lich­kei­ten der Dezen­tra­li­sie­rung, der Selbst­ge­stal­tung von Ener­gie­kreis­läu­fen durch Bür­ger und Unter­neh­men im Lebens- und Arbeits­um­feld, in Kom­mu­nen und Regio­nen, der Ver­la­ge­rung der zen­tra­len Wert­schöp­fung in die Kom­mu­nen, des Zusam­men­wir­kens in sozia­len Netz­wer­ken wer­den zuneh­mend in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on um Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit genutzt.

Die Ener­gie­wen­de wur­de ins­be­son­de­re durch den Aus­bau Erneu­er­ba­rer Ener­gien in den Ver­teil­net­zen beför­dert. Aber aus­ge­rech­net die­sen Gestal­tungs­pro­zess nahm Bun­des­re­gie­rung regel­recht „die Luft zum Atmen“.

Gleich­zei­tig wur­de aber allen gesell­schaft­li­chen Akteu­ren ver­stärkt bewusst, wie ver­letz­lich die Erde ist und wie radi­kal schnell der Wan­del vor sich geht. Es ist eine gro­ße Hoff­nung, dass gera­de die Jugend mit der Bewe­gung „Fri­days For Future“ die­sen Pro­zess ver­stan­den hat.

Inso­fern sind auch in der Kli­ma­dis­kus­si­on mit den Ziel­stel­lun­gen zur Reduk­ti­on des Aus­stos­ses an Koh­len­di­oxid die The­men Dezen­tra­li­sie­rung, Lebens­dien­lich­keit und Gestal­tungs­ho­heit zur pri­mä­ren Hand­lungs­grund­la­ge geworden.

Der Auf­schwung der Grü­nen bei der Wäh­ler­un­ter­stüt­zung zeigt, dass mit die­sem The­ma die Men­schen grund­le­gend erreicht wer­den. Natür­lich bewirkt Deutsch­land nur 2 % des welt­wei­ten CO2-Aus­stos­ses. Aber wenn jedes Land nur auf ande­re Län­der zeigt, lässt sich das Pro­blem nie in der Gemein­schaft lösen. Inso­fern sind Vor­rei­ter und Vor­bil­der gefragt.

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