Für nachhaltiges Wachstum Politikwandel initiieren
Statt Regulierung Chancen eröffnen und unabhängige Gestaltung ermöglichen
Bei allen Projekten zu Technologien, neuen Märkten und Digitalisierung des zukünftigen Energiesystems bleibt am Schluss die grundlegende Erkenntnis, dass Partizipation der Schlüssel zum Erfolg der Energiewende ist; verbunden mit der Aufgabe, die Bewusstseinsbildung zu Möglichkeiten der Beteiligung voranzutreiben. Erneuerbare Energien bringen Wertschöpfungschancen in Kommunen und ländlichen Regionen, autonome Gestaltungschancen für die Menschen im Wohn- und Arbeitsumfeld. Hieraus folgen aber auch neue Ansätze zum Design nachhaltiger Gebäude und Lebensräume sowie für das Zusammenwirken von Menschen in der Gemeinschaft. In einer zunehmend komplexeren Welt wird Globalisierung durch lokales Handeln und Flexibilität ergänzt und Widerstandsfähigkeit bei Gefährdungssituationen erhöht.
Handeln zum lokalen und regionalen Nutzen im globalen Verbund schafft eine Art zelluläres Energiesystem mit vielfältigen Formen der Partizipation. Dies umfasst die Eigenversorgung in Gebäuden, Quartieren sowie auf industriellen oder ländlichen Arealen im Verbund aller Energieträger sowie Erneuerbare Energiegemeinschaften. Daraus folgen auch neue Chancen für die Stadtwerke als lokale Energiedienstleister und Infrastrukturbetreiber.
Schaut man sich zu dieser Zielstellung das gesellschaftliche Umfeld an, ist festzustellen, dass der Regulierungsrahmen zu wenig Kreativität erlaubt. Es wird ein Rahmen mit mehr Offenheit und Flexibilität benötigt, der es ermöglicht, neue Lösungen auszuprobieren.
Politik erscheint beim Großteil der Parteienlandschaft zum Ziel einer nachhaltigen Lebensweise und eines erneuerbaren Energiesystems einig. Dabei wird aber der Kern der Veränderungsprozesse verkannt. Es geht nicht vorrangig darum, Prozesse zur Bereitstellung, zum Transport und zur Verteilung von Rohstoffen und Energie bei bisherigen Akteuren anzupassen. Stattdessen gilt es, den gesamtsystemischen Wandel zu verstehen, der völlig neue Formen der Gestaltung von Energie- und Rohstoffflüssen durch Akteure in allen Lebensumfeldern schafft.
Deshalb ist die Energiewende zuerst eine gesamtgesellschaftliche Chance, bei der Politik nicht die Aufgabe hat, die noch relativ unbekannte Zukunft schon heute im Detail zu regulieren. Im Gegenteil besteht die politische Aufgabe darin, Freiräume zu schaffen, die alle Menschen und Unternehmen nutzen können.
Die Forschung zu Akzeptanz und Beteiligung in geförderten Projekten zur Untersuchung des zukünftigen Energiesystems offenbarte aber auch die Schwierigkeiten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen standen zuerst technische und wirtschaftliche Lösungen im aktuellen Rahmen. Die Notwendigkeit eines gesamtsystemischen Wandels konnte der Politik noch nicht genügend verdeutlicht werden. Man bewegt sich auf Glatteis, wenn man der Politik den Spiegel vorhält. Aber bei relativ kurzen Wahlzyklen und einer sich schnell verändernden Welt scheint Politik eher geneigt, sich taktischen Aufgaben mit kurzem Zeithorizont und einfachen Antworten auf beschränkte Problemkreise zuzuwenden. In diesem Umfeld sind strategische, über mehrere Wahlperioden reichende Aufgaben im politischen Konsens verschiedener Kräfte schwer zu meistern. Langfristiges, visionäres Handeln wird vom Wähler nicht unbedingt belohnt.
Letztendlich setzen derartige, in die Zukunft reichende Aufgaben die notwendige Bewusstseinsbildung in der gesamten Gesellschaft voraus, die dann folgerichtig in politisches Handeln mündet. Dabei benötigt Bundespolitik Ansprechpartner gesellschaftlicher Gruppen, um notwendiges Handeln ableiten zu können. Es kann aber die Tendenz beobachtet werden, dass entsprechende Kontakte aufgrund wirtschaftlicher Stärke eher mit etablierten Unternehmen bisheriger Strukturen bestehen. Deren Sicht befördert nicht unbedingt grundsätzliche Veränderungsprozesse, die statt zentraler Lösungen den Weg zu dezentralen Konzepten und autonomen Handeln auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen vorschlagen.
Der gesamtgesellschaftliche Wandel zum nachhaltigen Wachstum auf Basis eines erneuerbaren Energiesystems benötigt eine stärkere Verzahnung der Bürgergesellschaft mit der Bundespolitik. Schaut man sich Gesetzesänderungen der letzten Jahre an, wird aber der Trend zu Eigenversorgung, zu gemeinsamen Lösungen in Gebäuden und Quartieren, zu Bürgerenergiegemeinschaften sowie zu Genossenschaften für Erneuerbare Energie zunehmend begrenzt oder durch Bürokratisierung behindert. Wenn die Bürgergesellschaft mobilisiert wird, scheint dies zunehmend als Widerstand gegenüber Erneuerbarer Energie zu erfolgen.
Zum Beispiel gelang es dem „Anti-Windenergie-Verein“ unter der sinnverfälschenden Bezeichnung „Vernunftkraft“ seit dem Jahre 2013 „erfolgreich“ am Einbruch des Windenergie-Ausbaus in Deutschland mitzuwirken. Als erster Vorsitzender dieser Organisation wirkt Dr. Nikolai Ziegler, der gleichzeitig als Beamter und Referent im Bundeswirtschaftsministerium arbeitet. Dr. Ziegler war sich nicht zu schade, im Jahre 2020 als Vorsitzender von “Vernunftkraft” und gleichzeitig Angestellter im Ministerium an das BMWi zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zu schreiben. Dabei schlussfolgert er, dass die Nutzung Erneuerbarer Energie nicht im öffentlichen Interesse liegt; womit erfolgreicher Lobbyismus der alten Welt vorgeführt wird.
Gleichzeitig wird im Wirtschaftsministerium über Jahre eine Studie genutzt, die einen Wert zum Infraschall von Windanlagen verbreitet, der durch einen Rechenfehler bis zu 10.000-fach überhöht ist. Die vom Ministerium zu dieser Studie beauftragte Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe korrigierte den Fehler erst, nachdem sie ein Jahr lang kontinuierlich von einem Wissenschaftler auf den Fehler aufmerksam gemacht wurde. Der zuständige Minister Altmaier entschuldigte sich für den Fehler, sieht aber die Verbreitung der Fehlermeldung bei der „interessierten Öffentlickeit“. Somit benutzen weiterhin alle Windkraftgegner die fehlerhafte Studie.
Inzwischen umfasst der Verein „Vernunftkraft“ ein Netzwerk hunderter Vereine in ganz Deutschland, die gegen Windenergie protestieren und klagen. Der Verein manipuliert Menschen in ganz Deutschland und besitzt gleichzeitig beste Verbindungen zur Bundespolitik.
Somit stellt sich die Frage, warum die Befürworter dezentraler, erneuerbarer Lösungen, von Autonomiekonzepten zum Eigenverbrauch selbst gewonnener Energie, zur Bildung von Genossenschaften und zur Umsetzung gemeinschaftlicher Lösungen in Gebäuden, Stadtquartieren und ländlichen Arealen keine analoge Interessenvertretung organiseren? Menschen fordern in anderen Bereichen mehr lokale Autonomie, regionales Handeln, regionale Produkte, Eigenständigkeit und Flexibilität trotz Globalisierung. Wie kann es gelingen, diese Forderungen auch bezogen auf die Grundbedürfnisse zu Energie als Grundlage von Leben und Arbeit an die Politik zu transportieren?
Im Programm „Schaufenster intelligente Energie“ folgert das Projekt C/sells, dass Partizipation, Vielfalt und Zellularität das Energiesystem der Zukunft bestimmen. Ein Nachteil von Vielfalt mag sein, dass die gemeinsame Stimme im Schwarm der Akteure fehlt. Insofern werden Strukturen benötigt, die viele Stimmen zu einer Stimme bei gemeinsamen Anforderungen bündeln. Existierende Vereine, wie die Smart Grid Plattform Baden-Württemberg, leisten eine wichtige Arbeit bei der Bündelung von Forschung und Entwicklung mit Herstellern, Beratern, Unternehmen der Energiewirtschaft sowie Projektentwicklern. Ebenso wirken verschiedene Organisationen zu Erneuerbaren Energien erfolgreich bei der Verbreitung von Konzepten und Möglichkeiten.
Der Autor machte dabei aber im Rahmen von 15 Jahren zugehöriger Projekte auch die Erfahrung, dass oft nicht die Sprache der Menschen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld gesprochen wird. Existierende Vereine in lokalen Bereichen sind in der Regel nicht umfassend vernetzt. Insofern sollte der „erfolgreich“ destruktiv wirkenden Dachorganisation „Vernunftkraft“ die Gestaltung eines Netzwerkes lokaler Aktivitäten entgegengesetzt werden. Dabei gilt es nicht nur, über Klimaschutz zu reden, sondern Chancen der Umgestaltung für wirtschaftlichen Erfolg, zur Unabhängigkeit, zur Gemeinschaft auszuprobieren, zu unterstützen, zu verbreiten, den Rahmen auszutesten und die systemische Umgestaltung und Vereinfachung des Rahmens bei der Politik einzufordern.
Quellen zum Artikel “Politikwandel initiieren”:
https://energieorganismus.de/beteiligung-und-gestaltungsvielfalt/
https://energieorganismus.de/11-prinzipien-einer-erfolgreichen-energiewende/
https://energieorganismus.de/bauhaus‑2–0/
https://energieorganismus.de/staedte-und-landschaften-der-zukunft/.
Andreas Kießling, energy design, Leimen / Heidelberg — 18. Juli 2021