EnWG-Novelle

Offener Brief an Minister Peter Altmaier

EnWG-Novelle
EnWG-Novelle und Speicher, copyright by AdobeStock, Nr. 51175430

Offener Brief an Minister Peter Altmaier

Dr. Frie­der Schmitt und Dipl.-Phys. Andre­as Kießling
Mit­wir­ken­de im C/sells Club und der Arbeits­grup­pe zur Regu­la­to­rik – gegrün­det in Fol­ge des C/sells-Pro­jek­tes als Schau­fens­ter im SINTEG-Programm 

Novel­le zum Ener­gie­wirt­schafts­recht (EnWG-Novel­le): „Gesetz zur Umset­zung uni­ons­recht­li­cher Vor­ga­ben und zur Rege­lung rei­ner Was­ser­stoff­net­ze im Energiewirtschaftsrecht“

Sehr geehr­ter Herr Minis­ter Altmaier,

in Ihrer Funk­ti­on als zustän­di­ger Minis­ter spre­chen wir Sie auf die­sem Wege bezüg­lich der Novel­le zum Ener­gie­wirt­schafts­recht (EnWG-Novel­le) an, um erwei­ter­te Aspek­te zur Novel­le einzubringen.

Vorschlag

Wir schla­gen vor, die im Ent­wurf zur EnWG-Novel­le for­mu­lier­te Defi­ni­ti­on von Ener­gie­spei­cher­an­la­gen durch die in der EU-Richt­li­nie 2019/944 vor­ge­ge­be­ne Defi­ni­ti­on von Ener­gie­spei­che­rung und Ener­gie­spei­chern zu ersetzen. 

Es geht ins­be­son­de­re dar­um, dass die Dop­pel­be­las­tung von Ener­gie­spei­chern durch Steu­ern und Netz­ent­gel­te zukünf­tig ver­mie­den wird.

Wei­ter­hin soll­ten akti­ve Betrei­ber und Kun­den ent­spre­chend der genann­ten EU-Richt­li­nie (Arti­kel 15, Abs. 5) zukünf­tig befugt sein, mit ihren Ener­gie­spei­chern meh­re­re Dienst­leis­tun­gen gleich­zei­tig zu erbringen.

In der täg­li­chen Pra­xis als Energie–Ingenieursberater mit dem Schwer­punkt auf der Erstel­lung nach­hal­ti­ger Ener­gie­kon­zep­te wird mit Berech­nun­gen und Sys­tem-Simu­la­tio­nen immer wie­der deut­lich und pra­xis­nah vor Augen geführt, wel­che Bedeu­tung Spei­cher im Gesamt­sys­tem besit­zen. Ohne die­se sind Sys­te­me mit hoher Ver­wen­dung erneu­er­ba­rer Ener­gie­quel­len nicht realisierbar.

Die The­ma­tik kann auf eine recht ein­fa­che For­mel der Über­mitt­lung von Ener­gie nach Ort und Zeit gebracht wer­den. Je mehr erneu­er­ba­re Ener­gien die Strom­erzeu­gung bestim­men, umso mehr ist eine zeit­li­che Anpas­sung von Erzeu­gung und Ver­brauch zu gewähr­leis­ten. Die Net­ze sor­gen für die ört­li­che Ver­tei­lung von Ener­gie. Spei­cher erbrin­gen zeit­li­che Verschiebungsleistungen.

Spei­cher sind somit gleich­be­rech­tig­ter Teil des zukünf­ti­gen Ener­gie­sys­tems und eben­so sys­tem­re­le­vant wie die Netze.

 

Begründung

Chance der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

Auf der Ver­an­stal­tung Mis­si­on Inno­va­ti­on Aus­tria stell­te Frau Prof. Dr. Clau­dia Kemp­fert — Lei­te­rin der Abtei­lung Ener­gie, Ver­kehr und Umwelt am Deut­schen Insti­tut für Wirt­schafts­for­schung — die sozio-öko­no­mi­sche Dimen­si­on des Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­ses im Ener­gie­sys­tem dar.

Lei­der wird gera­de die­se Dimen­si­on in der Poli­tik heu­te — auch im Ent­wurf zur EnWG-Novel­le — noch unter­schätzt. Es ist fest­zu­stel­len, dass noch kei­ne Einig­keit zum Ziel­sys­tem besteht.

Zu den grund­le­gen­den Zie­len bezüg­lich der Ver­rin­ge­rung der Koh­len­di­oxid-Emis­sio­nen in die Atmo­sphä­re, des Aus­baus der erneu­er­ba­ren Ener­gie­ge­win­nung und der Stei­ge­rung der Effi­zi­enz beim Ener­gie­ein­satz besteht weit­ge­hend Einig­keit. Zur Weg­be­stim­mung folgt schnell die Unei­nig­keit bei der Bestim­mung des Zukunfts­sze­na­ri­os. Es stellt sich die Fra­ge, ob es in der Gesell­schaft sowie bei den poli­ti­schen Ent­schei­dern den Wil­len gibt, aus einem zen­tra­len Sys­tem eine dezen­tra­le­re Archi­tek­tur auf­zu­bau­en. Die­se Fra­ge wird in Fol­ge des BMWI-Pro­gramms E‑Energy seit 2008 dis­ku­tiert und ist immer noch nicht entschieden.

Dabei erin­nern wir uns gern an die per­sön­li­che Über­ga­be des End­be­richts zum E‑Energy Pro­jekt ‚Modell­stadt Mann­heim‘ in Ihren Räu­men im Jah­re 2013.

Heu­te steht bei den unter­stüt­zen­den legis­la­ti­ven und regu­la­to­ri­schen Orga­nen eher die Klä­rung der tech­ni­schen Fra­gen im Fokus, statt durch die poli­ti­schen Ent­schei­der einen Kon­sens zur Ziel­be­stim­mung her­zu­stel­len, der Chan­cen zur Wirt­schafts- und Gesell­schafts­po­li­tik auf Basis von Inno­va­tio­nen und Par­ti­zi­pa­ti­on betont. Dazu schla­gen wir auch vor, den Grad der tech­ni­schen Detail­re­gu­lie­rung zu redu­zie­ren und statt­des­sen stär­ker auf die Inno­va­ti­ons­kraft der Gesell­schaft und die Mög­lich­kei­ten der inter­na­tio­na­len Stan­dar­di­sie­rung zu setzen.

Des­halb erscheint es wei­ter­hin not­wen­dig, den Kern der Ver­än­de­rungs­pro­zes­se zu verdeutlichen.

Die Ener­gie­wen­de stellt aus unse­rer Sicht zuerst eine groß­ar­ti­ge Chan­ce der Wirt­schafts- und Gesell­schafts­po­li­tik dar. Dabei wird ein Rah­men benö­tigt, der Anrei­ze gibt, die neu­en Wert­schöp­fungs­mög­lich­kei­ten für ein nach­hal­ti­ges Wachs­tum viel­fäl­tig zu ergrei­fen und in der Flä­che zu verbreiten.

 

Dekarbonisierung – Dezentralisierung – Demokratisierung – Digitalisierung und Flexibilisierung

Dekar­bo­ni­sie­rung soll­te also mit der Dezen­tra­li­sie­rung des Ener­gie­sys­tems neben neu­en last­fer­nen Anla­gen ver­bun­den sein.

Die Gestal­tung des Ener­gie­sys­tems erfolgt somit ins­be­son­de­re in den Gebäu­den, den Stadt­quar­tie­ren, den Städ­ten sowie auf gewerb­li­chen, länd­li­chen und indus­tri­el­len Area­len. Die EU-Richt­li­ni­en zu Erneu­er­ba­ren Ener­gien und zum Elek­tri­zi­täts­markt defi­nie­ren ent­spre­chen­de For­de­run­gen zur Eigen­ver­sor­gung, zur gemein­schaft­li­chen Eigen­ver­sor­gung sowie zu Ener­gie­ge­mein­schaf­ten. Ver­bun­den damit ist die Demo­kra­ti­sie­rung des Energiesystems.

Dafür benö­ti­gen wir Zel­len als Räu­me par­ti­zi­pa­ti­ver und auto­no­mer Gestal­tung, um einer­seits die Chan­cen der Ener­gie­wen­de viel­fäl­tig nut­zen zu kön­nen sowie ander­seits, um das damit ver­bun­de­ne Kom­ple­xi­täts­wachs­tum zu beherr­schen. Das Pro­jekt C/sells kon­zi­pier­te im Rah­men des von ihrem Haus geför­der­ten SIN­TEG-Pro­gram­mes ent­spre­chen­de Musterlösungen.

Grund­la­ge dafür sind die Digi­ta­li­sie­rung und Fle­xi­bi­li­sie­rung des Energiesystems.

Der Begriff Fle­xi­bi­li­sie­rung beschreibt die Fähig­keit, die vor­ge­se­he­ne Ener­gie­be­reit­stel­lung und ‑nut­zung zu bestimm­ten Zei­ten ändern zu kön­nen. Die Pla­nung im Ener­gie­sys­tem basier­te bis­her auf fest­ge­leg­ten Kraft­werks­fahr­plä­nen. Die Bilan­zie­rung von Erzeu­gung und Ver­brauch in bestimm­ten geo­gra­fi­schen Räu­men sowie die zuge­hö­ri­ge Steue­rung der Ener­gie­flüs­se im Strom­netz sichert die Funk­ti­on des Gesamtsystems.

Die Steue­rung erfolgt bis­her zeit­syn­chron und in Abhän­gig­keit vom Ort.

Im Gegen­satz dazu benö­tigt das zukünf­ti­ge Ener­gie­sys­tem mit vola­ti­ler Erzeu­gung eine Men­ge ver­schie­de­ner Ver­hal­tens­mög­lich­kei­ten zur Ener­gie­be­reit­stel­lung und ‑nut­zung. Das Sys­tem muss fle­xi­bler wer­den. Erfor­der­lich ist somit die tech­ni­sche Ent­kopp­lung der zeit­lich syn­chro­nen und damit star­ren Ver­bin­dung von Erzeu­gung und Ver­brauch. Benö­tigt wer­den viel­fäl­ti­ge Mög­lich­kei­ten zur zeit­li­chen Ver­schie­bung zwi­schen Erzeu­gung und Ver­brauch. Ermög­licht wird dies durch auf­lad­ba­re Ener­gie­ka­pa­zi­tä­ten ana­log einer Bat­te­rie oder eines Pumpspeicherkraftwerkes.

Die ört­li­che Steue­rung muss zukünf­tig viel stär­ker durch Mög­lich­kei­ten zur zeit­lich asyn­chro­nen Ent­kopp­lung von Ener­gie­be­reit­stel­lung und Ener­gie­nut­zung ergänzt werden.

 

Sektorenkopplung und virtuelle Speicher

Auf­grund des hohen Gra­des der Schwan­kun­gen der Leis­tungs­an­ge­bo­te von Wind- und Solar­ener­gie ist die erschließ­ba­re Fle­xi­bi­li­tät des Strom­sys­tem nicht aus­rei­chend. Dar­aus folgt die For­de­rung, die Mög­lich­kei­ten der Sek­to­ren­kopp­lung zu nut­zen, also Ener­gie­trä­ger inte­griert zu betrach­ten. Ein zen­tra­les Sys­tem kann die resul­tie­ren­de Kom­ple­xi­tät nicht mehr beherr­schen. Dies erfor­dert die Umset­zung in zel­lu­lä­ren, auto­no­men sowie ver­bun­de­nen Teil­struk­tu­ren des Energiesystems.

Mit der Erkennt­nis, dass die Orts­kom­po­nen­te der bis­he­ri­gen Steue­rung mit star­rer, syn­chro­ner Kopp­lung durch die zeit­lich asyn­chro­ne Kom­po­nen­te der Steue­rung auf Basis der Fle­xi­bi­li­tät zu erset­zen ist, wird die Bedeu­tung des Begrif­fes Spei­chers in all­ge­mei­ner Form deut­lich. Viel­fäl­ti­ge Ener­gie­ka­pa­zi­tä­ten, die Fle­xi­bi­li­tät erst ermög­li­chen, sind zu erschlie­ßen. Somit ist der bis­he­ri­ge natio­na­le Ansatz zur Nut­zung des Begrif­fes Spei­cher gegen­über der EU nicht ausreichend.

Erschließ­ba­re Spei­cher­ka­pa­zi­tä­ten rei­chen von Pump­spei­cher­kraft­wer­ken, über die Spei­cher­fä­hig­keit von Wär­me- und Gas­net­zen, Wärme‑, Käl­te- und Gas­spei­chern, die Ver­schie­bung von Strom nut­zen­den Pro­zes­sen (Indus­trie­pro­zes­se bis zur Ladung von Elek­tro­fahr­zeu­gen), die Kopp­lung von Strom­erzeu­gungs­an­la­gen mit Ener­gie­wand­lern (Strom in Wärme/Kälte, Strom in Gas und Flüs­sig­kei­ten, usw.) bis zur Nut­zung von elek­tro­che­mi­schen Bat­te­rien. Dabei ist die­se Lis­te der Tech­no­lo­gien sicher­lich nicht vollständig.

Aus unse­rer Sicht sind somit tech­no­lo­gie­be­zo­ge­ne Rege­lun­gen sowie der Bezug zur Erzeu­gung und zum Ver­brauch für Spei­cher, wie in Bezug auf die EnWG-Novel­le oben aus­ge­führt, unge­eig­net. Statt einer gesetz­li­chen Rege­lung für eine bestimm­te Tech­no­lo­gie wird eine Rege­lung zum all­ge­mei­nen Spei­cher­be­griff ana­log der EU-Defi­ni­ti­on benötigt.

Wir wol­len kei­ne spe­zi­fi­schen Unter­neh­mens­in­ter­es­sen ver­tre­ten. Es geht dar­um, die Chan­cen der Trans­for­ma­ti­on des Ener­gie­sys­tems für die gesam­te Gesell­schaft zu erschlie­ßen und somit Vor­aus­set­zun­gen für nach­hal­ti­ges Wachs­tum zu schaffen.

 

Zusammenfassung

Spei­cher sind also weder Ver­brau­cher noch Erzeu­ger, son­dern imma­nen­ter Teil des zukünf­ti­gen sym­bio­ti­schen Gesamt­sys­tems. Da Spei­cher im Gegen­satz zu den Net­zen in berech­tig­ter Wei­se nicht regu­liert, son­dern im frei­en Markt allo­kiert sind und die öko­no­mi­schen Bedin­gun­gen für Spei­cher kei­ne Inves­ti­ti­ons­an­rei­ze bie­ten, wer­den für die zukünf­ti­gen Bedar­fe zu wenig Spei­cher errichtet.

Dies soll­te für eine erfolg­rei­che Ener­gie­wen­de in der EnWG-Novel­le im obi­gen Sin­ne ver­än­dert werden.

Für eine Berück­sich­ti­gung im Sin­ne einer zügi­gen und nach­hal­ti­gen Ener­gie­wen­de, auch im Sin­ne der For­de­rung nach einer euro­päi­schen Ver­ein­heit­li­chung bedan­ken wir uns für Ihre Unter­stüt­zung und senden

freund­li­che Grüße

Dr.-Ing. Frie­der Schmitt

Dipl.-Phys. Andre­as Kießling

 

Mann­heim, den 29. April 2021

Andre­as Kieß­ling, ener­gy design

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

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