Eigenversorgung mit Energie ist kein Systemfehler

Offener Brief an die Bundesnetzagentur

Eigenversorgung ist kein Systemfehler
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Offener Brief an die Bundesnetzagentur

Eigenversorgung aus Sicht der Bundesnetzagentur

Sehr geehr­ter Herr Homann,

bezo­gen auf die Daten­ana­ly­se der Bun­des­netz­agen­tur zu Kos­ten des Eigen­ver­brau­ches Strom vom Dezem­ber 2019 möch­te ich mich mit einem öffent­li­chen Brief direkt an sie als Prä­si­dent der Bun­des­netz­agen­tur wenden.

Dabei soll an die­ser Stel­le gleich zu Beginn betont wer­den: Eigen­ver­sor­gung mit Ener­gie ist kein Sys­tem­feh­ler! War­um soll­te dies deut­lich fest­ge­stellt werden?

In der genann­ten Daten­ana­ly­se wird for­mu­liert, dass „wirt­schaft­li­che Vor­tei­le, die dem Eigen­ver­brau­cher ent­ste­hen, für die All­ge­mein­heit Kos­ten ver­ur­sa­chen“. Wei­ter­hin wird aus­ge­führt, dass „dar­über hin­aus aus dem Eigen­ver­brauch Kos­ten zu Las­ten der All­ge­mein­heit ent­ste­hen, weil die Eigen­ver­sor­gung zu Inef­fi­zi­en­zen auf den Wert­schöp­fungs­stu­fen des Strom­ver­sor­gungs­sys­tems führt.“

Der ehe­ma­li­ge Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der CSU Josef Göp­pel schließt dar­aus, dass die Bun­des­netz­agen­tur „Eigen­ver­brauch als Sys­tem­feh­ler“ ein­stuft und beglei­tet dies ent­spre­chend kri­tisch. Dies kann auch aus For­mu­lie­run­gen des Lei­ters des Refe­rats für Erneu­er­ba­re Ener­gien der Bun­des­netz­agen­tur, Peter Strat­mann, geschlos­sen wer­den. Er schlägt vor, finan­zi­el­le Anrei­ze für die Opti­mie­rung des Eigen­ver­brauchs und somit für Heim­spei­cher radi­kal zu beschnei­den. Er bevor­zugt die Voll­ein­spei­sung der selbst erzeug­ten Energie.

Seit den Vor­schlä­gen zu den soge­nann­ten Pro­sumer-Model­len im Jah­re 2020 ist die Dis­kus­si­on zur Inte­gra­ti­on der Erneu­er­ba­ren beim BMWi sehr stark von den Vor­schlä­gen der Bun­des­netz­agen­tur geprägt. Des­halb sei an die­ser Stel­lung die Fra­ge erlaubt, ob es Auf­ga­be der Bun­des­netz­agen­tur ist, Ein­fluss auf den legis­la­ti­ven Pro­zess zur Ver­än­de­rung des regu­la­to­ri­schen Rah­mens zu neh­men. Ist es nicht eher nur die Auf­ga­be der Bun­des­netz­agen­tur einen gege­be­nen regu­la­to­ri­schen Rah­men umzusetzen?

Das Ener­gie­sys­tem der Zukunft soll­te nicht aus Sicht des Net­zes gestal­tet wer­den, son­dern aus Sicht der Chan­cen eines Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­ses für die Gesell­schaft zum nach­hal­ti­gen Wachs­tum auf Basis von Inno­va­tio­nen und Beteiligungsmöglichkeiten.

Dies möch­te ich nach­fol­gend wei­ter­ge­hend begründen.

Rückblick

Als ehe­ma­li­ger Stadt­rat in der Ober­lau­sit­zer Stadt Nies­ky und als ehe­ma­li­ger Kreis­rat im Nie­der­schle­si­schen Ober­lau­sitz­kreis durf­te ich in den 90-er Jah­ren den Pro­zess der Libe­ra­li­sie­rung beglei­ten. Mit einer Kla­ge in Dres­den erreich­te die Stadt Nies­ky die Über­nah­me der loka­len Strom­ver­sor­gung. Im Stadt­rat herrscht über alle Frak­tio­nen immer Einig­keit, dass die voll­stän­di­ge Unab­hän­gig­keit der Nies­ky­er Stadt­wer­ke von exter­nen Betei­li­gun­gen im Ver­bund von Strom‑, Wär­me- und Gas­ver­sor­gung Garant für loka­le Gestal­tungs- und Wert­schöp­fungs­mög­lich­kei­ten ist.

Als Mit­glied der Gesell­schaf­ter­ver­samm­lung lern­te ich auch den Aus­gangs­punkt von Libe­ra­li­sie­rung sowie Ent­flech­tung der Netz- und Markt­funk­tio­nen im Strom­sys­tem ken­nen. Die Ziel­stel­lung bestand in der Stär­kung des Mark­tes. Die EU betont dabei den kun­den­zen­tri­schen Ansatz. Nicht das Ener­gie­sys­tem aus Erzeu­gung, Spei­che­rung und Ver­brauch in der Viel­falt der Umset­zungs­we­ge in Gebäu­den, auf öffent­li­chen und gewerb­li­chen Area­len, in Städ­ten und länd­li­chen Regio­nen dient der ver­bin­den­den Netz­in­fra­struk­tur. Statt­des­sen befin­det sich die Netz­in­fra­struk­tur in der die­nen­den Rol­le gegen­über den ande­ren Akteu­ren im Energiesystem.

Die­ses Ener­gie­sys­tem wie­der­um besteht zuneh­mend aus Eigen­erzeu­gung, Ener­gie­spei­che­rung in Gebäu­den, in Stadt­quar­tie­ren und auf sons­ti­gen Area­len sowie aus neu­en For­men der Ener­gie­nut­zung (z.B. Wär­me­pum­pen, Elek­tro­mo­bi­li­tät). Dar­aus resul­tie­ren neue For­men des Gebäu­de­de­signs, loka­ler und regio­na­ler Ener­gie­kon­zep­te und der Land­schafts­ent­wick­lung. In der Fol­ge ent­wi­ckelen sich Mög­lich­kei­ten der Auto­no­mie und Aut­ar­kie. Die Über­nah­me von Gestal­tungs­hoh­heit wird zum viel­fäl­ti­gen Massenphänomen.

Netzbetreiber als Diener bei der Umgestaltung des Energiesystems

Eigen­ver­sor­gung mit Ener­gie ist kein Sys­tem­feh­ler, son­dern legi­ti­mes Gestal­tungs­recht in einer frei­heit­li­chen Gesell­schaft. Die Netz­in­fra­struk­tur nimmt dabei die ange­spro­che­ne die­nen­de Rol­le ein und ist ent­spre­chend umzu­bau­en. Es geht also nicht pri­mär um die soge­nann­te Sys­tem- oder Netz­dien­lich­keit, auch nicht um die Markt­dien­lich­keit bei der Gestal­tung loka­ler Energiesysteme.

Nein, es geht vor­ran­gig um Lebens­dien­lich­keit und gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be bei der Gestal­tung von Ener­gie­be­reit­stel­lung, Spei­che­rung und Ener­gie­nut­zung durch die Bür­ger, die länd­li­chen und kom­mu­na­len Gemein­schaf­ten sowie durch die Viel­falt klei­ner und mitt­le­rer Unter­neh­men. Somit sei es noch ein­mal gesagt: Eigen­ver­sor­gung mit Ener­gie ist kein Sys­tem­feh­ler, son­dern ein Recht, dass der not­wen­di­ge Umbau der Netz­in­fra­struk­tur zu gewähr­leis­ten hat.

Übri­gens kor­re­spon­diert die­ser Weg mit den EU-Richt­li­ni­en zu Erneu­er­ba­ren Ener­gien und zur Umge­stal­tung des Ener­gie­mark­tes unter den Begrif­fen Eigen­ver­sor­gung, gemein­schaft­li­che Eigen­ver­sor­gung, Erneu­er­ba­re-Ener­gien-Gemein­schaf­ten sowie Bür­ger­en­er­gie­ge­mein­schaf­ten. Deutsch­land hinkt bei der Umset­zung die­ser Richt­li­ni­en zurück. Lei­der ist fest­zu­stel­len, dass gera­de die Bun­des­netz­agen­tur die Bestre­bun­gen zur Eigen­ver­sor­gung skep­tisch beur­teilt und eher behin­dert. Nach­fol­gend soll des­halb beleuch­tet wer­den, war­um Eigen­ver­sor­gung eine gro­ße Chan­ce für die gesam­te Gesell­schaft ist.

Veränderung der Wertschöpfung

Erneu­er­ba­re Ener­gien bie­ten Chan­cen zur Ener­gie­ge­win­nung, Spei­che­rung und Nut­zung in allen Lebens­be­rei­chen. Dies ermög­licht neue Gestal­tungs­an­sät­ze für pri­va­te und öffent­li­che Gebäu­de, Stadt­quar­tie­re, gewerb­li­che und indus­tri­el­le Area­le, Städ­te und länd­li­che Regionen.

Städ­te spie­len eine zen­tra­le Rol­le, um neue For­men des Designs auf Basis erneu­er­ba­rer Ener­gien, neu­er Werk­stoff­tech­no­lo­gien sowie der Digi­ta­li­sie­rung zu verbreiten.

Gleich­zei­tig füh­ren Kli­ma­wan­del, Ver­net­zung und die Glo­ba­li­sie­rung zu neu­en Gefah­ren für die siche­re Funk­ti­on der Stadt. Dies zeigt die zuneh­men­de Anzahl der Cyber-Angrif­fe wie auch die Coro­na-Pan­de­mie. Die Stadt muss sich mit auto­no­men Funk­tio­nen auf Gefah­ren ein­stel­len. Die Stadt der Zukunft wird nicht aut­ark funk­tio­nie­ren. Sie kann aber mit­tels digi­ta­ler, ener­ge­ti­scher und stoff­li­cher Kreis­läu­fe auto­nom wir­ken, einen höhe­ren Grad an Resi­li­enz ent­wi­ckeln sowie mit der Umge­bung interagieren.

Mög­lich­kei­ten zu auto­no­men Ener­gie­kon­zep­ten schaf­fen Anrei­ze zur Selbst­ge­stal­tung sowie zur kom­mu­na­len und regio­na­len Wert­schöp­fung. Sie beför­dern nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung und ver­än­dern wirt­schaft­li­ches Han­deln. Der frü­he­re SPD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Dr. Her­mann Scheer bezeich­ne­te loka­le Ener­gie aus Pho­to­vol­ta­ik als Mit­tel zur Ent­schul­dung der Kommunen.

Ander­seits erhö­hen dezen­tra­le Gestal­tung und For­men­viel­falt die Kom­ple­xi­tät des Ener­gie­sys­tems. Kon­zep­te zur Kom­ple­xi­täts­be­herr­schung umfas­sen zwin­gend die auto­no­me Rege­lung in Teil­be­rei­chen des Gesamt­sys­tems bei gleich­zei­ti­ger Inte­gra­ti­on in den Ver­bund. Dies erhöht die Wider­stands­fä­hig­keit der Ener­gie­infra­struk­tur. Auf die­ser Basis wid­me­te sich das Schau­fens­ter­pro­jekt C/sells im SIN­TEG-Pro­gramm der zel­lu­lä­ren Sys­tem­ar­chi­tek­tur zur Eigen­ge­stal­tung auf Basis von auto­no­men, im Ver­bund agie­ren­den oder im Not­fall auch aut­ar­ken Konzepten.

Par­ti­zi­pa­ti­on — also Betei­li­gung — ist der Schlüs­sel zum Erfolg der Ener­gie­wen­de. Dabei umfasst die­ser Begriff nicht nur Mit­spra­che. Er beschreibt auch Eigen­ge­stal­tung, gemein­schaft­li­ches Wir­ken sowie die Neu­be­stim­mung des Ver­hält­nis­ses loka­ler, regio­na­ler und glo­ba­ler For­men von Energiezugriffen.

Eine wich­ti­ge Erkennt­nis aus viel­fäl­ti­gen Pro­jek­ten ist der Nut­zen, den eine umfas­sen­de Aus­prä­gung von Betei­li­gungs­for­men an der Ener­gie­wen­de mit sich bringt. Dadurch ver­än­dert sich die Gesell­schaft, schafft Sprung­inn­va­tio­nen und gene­riert neu­es Wachstum.

Zielbestimmung auf Basis einer politischen Diskussion

Eigen­ver­sor­gung als Sys­tem­feh­ler zu bezeich­nen kann somit nur auf einem ein­ge­eng­ten Blick­win­kel beru­hen und kon­ser­viert aus­schließ­lich bis­he­ri­ge Struk­tu­ren. Eigen­ver­sor­gung mit Ener­gie ist kein Sys­tem­feh­ler, son­dern Chan­ce für die Gesell­schaft, um eine nach­hal­ti­ge Zukunft mit Wachs­tum zu verbinden.

Um das eigent­li­che Pro­blem offen­zu­le­gen, das letzt­end­lich Ursa­che der zöger­li­chen Ener­gie­wen­de in Deutsch­land ist, müs­sen wir noch ein­mal ein Stück zurücktreten.

Zu den grund­le­gen­den Zie­len bezüg­lich der Ver­rin­ge­rung der Koh­len­di­oxid-Emis­sio­nen in die Atmo­sphä­re, des Aus­baus  der Erneu­er­ba­ren Ener­gie­ge­win­nung und zur Stei­ge­rung der Effi­zi­enz beim Ener­gie­ein­satz besteht weit­ge­hend Einig­keit. Zur Weg­be­stim­mung folgt schnell die Unei­nig­keit bei der Bestim­mung des Zukunfts­sze­na­ri­os. Es stellt sich die Fra­ge, ob es in der Gesell­schaft sowie bei den poli­ti­schen Ent­schei­dern den Wil­len gibt, aus einem zen­tra­len Sys­tem eine dezen­tra­le­re Archi­tek­tur auf­zu­bau­en. Die­se Fra­ge wird in Deutsch­land in Fol­ge des vom BMWi geför­der­ten Pro­gramm E‑Energy seit 2008 dis­ku­tiert und ist anschei­nend immer noch nicht entschieden.

Der Wider­stand gegen ein deut­lich dezen­tra­le­res Sys­tem, in dem Eigen­ver­sor­gung kein Sys­tem­feh­ler ist, zeigt sich auch bei der feh­len­den Bereit­schaft, im Erneu­er­ba­ren-Ener­gien-Gesetz als auch im Ener­gie­wirt­schafts­ge­setz die EU-Richt­li­ni­en zu Eigen­ver­brauch, gemein­schaft­li­chen Eigen­ver­brauch, Erneu­er­ba­re-Ener­gien-Gemein­schaf­ten als auch Bür­ger­en­er­gie­ge­mein­schaf­ten voll­stän­dig umzu­set­zen. Inso­fern scheint es not­wen­dig, die Fra­ge nach dem Zukunfts­sze­na­rio des Ener­gie­sys­tems zu stel­len, klar zu beant­wor­ten sowie die Umset­zung dies­be­züg­li­cher EU-Richt­li­ni­en zu prüfen.

Dabei ist der Fokus nicht nur auf das soge­nann­te ener­gie­wirt­schaft­li­che Drei­eck mit CO2-Reduk­ti­on, Ver­sor­gungs­si­cher­heit und Wirt­schaft­lich­keit zu rich­ten. Wie schon aus­ge­führt ist Par­ti­zi­pa­ti­on der Schlüs­sel zum Erfolg der Ener­gie­wen­de. Statt des ener­gie­wirt­schaft­li­chen Drei­ecks soll­te uns das ener­gie­wirt­schaft­li­che Qua­drat lei­ten.

Es geht nicht zuerst um Effi­zi­enz, son­dern um die Effek­ti­vi­tät der Ziel­er­rei­chung. Die Aus­bau­zie­le für Erneu­er­ba­re Ener­gie wer­den durch Betei­li­gung der Viel­falt der Gesell­schaft effek­ti­ver erreicht. Des­halb geht es im zwei­ten Schritt um die Gestal­tung des Rah­mens für die oben genann­ten Punk­te der EU-Richt­li­ni­en. Eine Sys­tem­ar­chi­tek­tur aus Zel­len auto­no­mer Gestal­tungs­ho­heit in Micro­grids (Gebäu­de, Quar­tie­re, Area­le, länd­li­che Regio­nen) benö­tigt zusätz­lich zur dezen­tra­len Erzeu­gung zur Kom­ple­xi­täts­be­gren­zung auch dezen­tra­le Rege­lungs­struk­tu­ren und dezen­tra­le Infor­ma­ti­ons­sys­te­me. Der regu­la­to­ri­sche Rah­men ist also eher zu ent­schla­cken und in regu­la­to­ri­schen Inno­va­ti­ons­zo­nen zu tes­ten. Die Effi­zi­enz der Lösung kann dann bewer­tet wer­den, wenn der effek­ti­ve Weg zum Ziel in der Gesell­schaft auf Basis einer poli­ti­schen und nicht tech­ni­schen Dis­kus­si­on gewählt wurde.

Systembewahrer

Exis­tiert ein Gleich­ge­wicht bei der Ver­brei­tung von Posi­tio­nen? Anstren­gun­gen für mehr Bür­ger­en­er­gie ste­hen star­ke Geg­ner zur Kon­ser­vie­rung des bis­he­ri­gen Sys­tems gegen­über. Die­se Geg­ner wer­den oft mit der gesam­ten Ener­gie­wirt­schaft gleich­ge­setzt. Doch die­se The­se wird hier nicht gestützt. Stadt­wer­ke und Regio­nal­ver­sor­ger sind auch Trei­ber der Ver­än­de­rungs­pro­zes­se. Sie sehen ihre Zukunft im Infra­struk­tur­be­trieb auf Basis der Digi­ta­li­sie­rung. Dazu gehört das wach­sen­de Geschäft aus Ener­gie­dienst­leis­tun­gen, das Ver­lus­te auf­grund abneh­men­der Ener­gie­lie­fe­run­gen aus­glei­chen soll. Die­se Akteu­re stel­len Ener­gie­ma­nage­ment­sys­te­me für Gebäu­de und Stadt­quar­tie­re bereit, um zel­lu­lä­re Lösun­gen zu ermög­li­chen. Somit ent­wi­ckeln sich Unter­neh­men der klas­si­schen Ener­gie­wirt­schaft vom Ver­sor­ger zum „Umsor­ger“.

Der Begriff der Ver­sor­gung umfasst ein gewis­ses Maß an Unmün­dig­keit. In der Tat war das bis­he­ri­ge Ener­gie­sys­tem über 100 Jah­re ein Ver­sor­gungs­sys­tem ohne Selbst­ge­stal­tung. „Strom kommt aus der Steck­do­se“ war der Slo­gan. Ander­seits möch­te der mün­di­ge Mensch sei­ne Lebens­wei­se eigen­stän­dig gestal­ten, aber dabei ent­spre­chend sei­nen Wün­schen unter­stützt – umsorgt – wer­den und den Lebens­kom­fort erhö­hen. Für den not­wen­di­gen Lebens­raum soll dabei die Gestal­tungs­ho­heit über­nom­men wer­den. Men­schen erwar­ten die Lebens­dien­lich­keit der im Lebens­raum benö­tig­ten Lösun­gen und nicht die von der Ener­gie­wirt­schaft und zuge­hö­ri­gen Insti­tu­tio­nen ver­lang­te System‑, Netz- und Marktdienlichkeit.

Auf der ande­ren Sei­te gibt es natür­lich Inter­es­sen­trä­ger eines zwar erneu­er­bar umge­stal­te­ten, aber wei­ter­hin zen­tra­len Sys­tems. Auch Gün­ther Oet­tin­ger sprach sich als EU-Kom­mis­sar gegen dezen­tra­le PV-Erzeu­gung aus und for­der­te statt­des­sen die umfang­rei­che Nut­zung von Off­shore-Wind ent­lang der Atlan­tik­küs­te Euro­pas, Solar­ener­gie mit dem Pro­jekt Deser­tec in Nord­afri­ka sowie neue Höchst­span­nungs-Lei­tun­gen mit Gleich­strom und Pump­spei­cher­kraft­wer­ke in Nor­we­gen. Die größ­ten Unter­neh­men der Ener­gie­wirt­schaft spre­chen sich ten­den­zi­ell eher für zen­tra­le Lösun­gen aus als Stadt­wer­ke und Regio­nal­ver­sor­ger. Die finan­zi­ell stärks­ten Unter­neh­men besit­zen die Res­sour­cen für Öffent­lich­keits­ar­beit, um dezen­tra­le Lösun­gen in ein schlech­tes Licht zu rücken. Eigen­ver­sor­gung wird als unso­li­da­risch dis­kre­di­tiert und mit bewuss­ter Falsch­dar­stel­lung als Ursa­che für die explo­die­ren­de EEG-Umla­ge dar­ge­stellt. Markt­macht wird genutzt, um bei Ver­tre­tern der Poli­tik und der Behör­den inten­siv vorzusprechen.

Systemveränderer

Auf der ande­ren Sei­te hat die Viel­falt der Ver­tre­ter dezen­tra­ler Lösun­gen kei­ne star­ke Lob­by. Der ehe­ma­li­ge CSU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Josef Göp­pel schließt dar­aus, dass nur akti­ve Prä­senz am Ener­gie­markt den Kleinerzeu­gern Ein­fluss als poli­ti­schen Fak­tor sichert.

Dafür wird die Bewusst­seins­bil­dung bezüg­lich der Chan­cen dezen­tra­ler Ener­gie­ge­win­nung im Design der Gebäu­de, Quar­tie­re, Land­schaf­ten benö­tigt. Bis­he­ri­ge Leucht­turm­pro­jek­te waren längst nicht geeig­net, die­ses Ziel zu errei­chen, da sie sich in einer begrenz­ten Gemein­schaft bewe­gen. Es wer­den groß­flä­che, dau­er­haft ange­leg­te Real- und Expe­ri­men­tier­um­ge­bun­gen in Ver­bin­dung mit einer Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gne des Lan­des benötigt.

Dabei ist die gesell­schaft­li­che Ent­schei­dung auf Basis eines poli­ti­schen Dis­kur­ses zu den Fol­gen der Bei­be­hal­tung des bis­he­ri­gen, zen­tra­len Ver­sor­gungs­kon­zep­tes und der Gestal­tung eines dezen­tra­len und kom­ple­xe­ren Sys­tems notwendig.

Aktu­ell wird die Dis­kus­si­on in Deutsch­land eher von einer nega­ti­ven Kom­mu­ni­ka­ti­on bezüg­lich der tech­ni­schen Pro­ble­me getra­gen. Ande­re Staa­ten sehen eher die Chan­cen und unter­stüt­zen die Auf­bruch­stim­mung für Sprunginnovationen.

Die Fra­ge­stel­lun­gen sind dabei natür­lich indi­vi­du­ell und kom­plex. Des­halb wer­den viel­fäl­ti­ge Expe­ri­men­tier­um­ge­bun­gen und Mus­ter­lö­sun­gen benö­tigt, die durch lang­fris­tig auf­ge­stell­te, insti­tu­tio­nel­le Unter­stüt­zung ver­brei­tet wer­den, um das Bewusst­sein für Chan­cen in die Brei­te der Gesell­schaft zu tragen.

Auch sind die not­wen­di­gen Vor­ha­ben nicht durch jeden finan­zi­ell zu leis­ten. Gera­de des­halb wer­den nicht nur Eigen­ver­brauchs­lö­sun­gen, son­dern Ener­gie­ge­mein­schaf­ten benö­tigt. Lei­der wer­den die in den genann­ten EU-Richt­li­ni­en genutz­ten Begrif­fe zu gemein­schaft­li­cher Eigen­ver­sor­gung und zu Ener­gie­ge­mein­schaf­ten im Rah­men natio­na­ler Gesetz­ge­bungs­pro­zes­se weit­ge­hend ignoriert.

Schlussfolgerungen

Die Bun­des­netz­agen­tur soll­te nicht auf Grund­la­ge der aktu­el­len Regu­lie­rung gegen Ver­än­de­rungs­pro­zes­se argu­men­tie­ren, die ins­be­son­de­re mit den Begrif­fen dezen­tra­le Ener­gie­sys­te­me, Pro­sumer, Auto­no­mie in Ener­gie­zel­len, Ener­gie­spei­cher und Fle­xi­bi­li­tät ver­bun­den sind. Statt­des­sen ist der gesell­schaft­li­che Pro­zess zum Umbau des Ener­gie­sys­tems in einem par­ti­zi­pa­ti­ven Pro­zess sowie das resul­tie­ren­de Ver­fah­ren zum Umbau des legis­la­ti­ven und regu­la­to­ri­schen Rah­mens zu beob­ach­ten, um die Ver­än­de­rungs­pro­zes­se zur Regu­la­to­rik im Rah­men der Bun­des­netz­agen­tur zügig abbil­den zu können.

Ein erfolg­rei­cher Wan­del kann nur gelin­gen, wenn tech­ni­sche und zen­tral gelenk­te Detail­re­gu­lie­rung nicht das Pri­mat vor der Frei­set­zung von Sprung­in­no­va­tio­nen auf den unter­schied­li­chen Ebe­nen der Gesell­schaft hat. Nach­fol­gend wer­den des­halb drei Schwer­punk­te zur Begrün­dung von Eigen­ver­sor­gung in dezen­tra­len Ener­gie­sys­tem zusammengefasst.

Widerstandsfähigkeit durch zellulären Verbund

Von Beruf Kern­phy­si­ker ist mir bewusst, dass sich ein nach­hal­ti­ges Ener­gie­sys­tem der Zukunft wei­ter­hin rein zen­tral auf­bau­en lässt. Aus mei­ner Sicht wird auch die Kern­fu­si­on zukünf­tig eine wich­ti­ge Rol­le spie­len. Der wei­ter­hin wach­sen­de Ener­gie­be­darf der Mensch­heit bei einem Weg zum nach­hal­ti­gen Wachs­tum erfor­dert die Diver­si­fie­rung der Wege zur Ener­gie­ge­win­nung auch mit groß­tech­ni­schen Anlagen.

Aber gera­de die Coro­na-Pan­de­mie hat gezeigt, wie anfäl­lig rein zen­tral orga­ni­sier­te Sys­te­me sind. Fle­xi­bi­li­tät und Auto­no­mie wer­den benö­tigt, was letzt­end­lich zur Dezen­tra­li­sie­rung in einer Art zel­lu­lä­rem Ver­bund füh­ren muss. Zen­tral orga­ni­sier­te Sys­te­me besit­zen weni­ger Wider­stands­kraft als dezen­tra­le Sys­te­me, die mit auto­no­men und aut­ar­ken For­men der Gestal­tung sowie gemein­sa­men Regeln im Ver­bund wir­ken. Wir benö­ti­gen also die Ver­ei­ni­gung von zen­tra­len Groß­an­la­gen und dezen­tra­len Lösun­gen in einem Sys­tem­ver­bund, dem zel­lu­lä­ren Energieorganismus.

Nachhaltiges Wachstum mit neuen Möglichkeiten der Wertschöpfung

Auto­no­mie und Ver­bun­den­heit gehö­ren zusam­men, denn erst der kom­ple­xe Orga­nis­mus ermög­licht Fle­xi­bi­li­tät und Emer­genz – also die Ent­wick­lung neu­er Eigen­schaf­ten und Mög­lich­kei­ten in einem Sys­tem. Aus tech­no­lo­gi­scher Sicht ist Emer­genz mit dem Auf­tre­ten von Sprung­in­no­va­tio­nen ver­bun­den. Sprung­in­no­va­tio­nen bil­den die Grund­la­ge für neu­es wirt­schaft­li­ches Wachs­tum, das auf nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung basiert. Somit sind dezen­tra­le Lösun­gen und Eigen­ver­sor­gung auch Mit­tel zu Wert­schöp­fung in den Regio­nen sowie bei klein- und mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­men. Es geht also nicht um die Besei­ti­gung von Inef­fi­zi­en­zen, wie in der anfangs genann­ten Daten­ana­ly­se der Bun­des­netz­agen­tur aus­ge­führt, son­dern um die Umge­stal­tung und Ver­brei­tung der Wertschöpfungsmöglichkeiten.

Neues Design der Gebäude, Städte und Landschaften der Zukunft

Die Über­nah­me der Gestal­tungs­ho­heit bezüg­lich der eige­nen Ener­gie­kreis­läu­fe eröff­net neue Mög­lich­kei­ten für das Design von Gebäu­den und Stadt­quar­tie­ren sowie für die Ent­wick­lung von Städ­ten und Land­schaf­ten. Das Stadt­bild der Zukunft wird sich ver­än­dern. Die­se Aus­sich­ten bie­ten wie­der­um bezüg­lich der not­wen­di­gen Lern­pro­zes­se neue Chan­cen für Archi­tek­tur, Land­schafts­ge­stal­tung, für neue Berufs­bil­der und neue For­men des Zusam­men­wir­kens von Akteu­ren bei Pla­nung, Bau und Betrieb von Gebäu­den und Infrastrukturen.

Unser Stand­punkt basiert auf der Über­zeu­gung, dass das Recht auf infor­ma­tio­nel­le und ener­ge­ti­sche Selbst­ge­stal­tung jedem Akteur der Gesell­schaft als Grund­recht zusteht, denn Ener­gie und Infor­ma­ti­on sind die Grund­la­ge von Leben.

Der Zugriff auf Ener­gie und Infor­ma­ti­on schafft Arbeit und ermög­licht nach­hal­ti­ges Wachstum.

Es gibt kei­ne Bür­ger­pflicht, sich Ver­sor­gen las­sen zu müs­sen, son­dern das Recht und die Frei­heit zur Selbstgestaltung.

Die­se bei­den kon­trä­ren Stand­punk­te für zen­tral oder par­ti­zi­pa­tiv, dezen­tral orga­ni­sier­te Sys­te­me sind nicht wis­sen­schaft­lich zu bewei­sen, son­dern ent­spre­chen zwei Wegen gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lung. Aber, Eigen­ver­sor­gung mit Ener­gie ist kein Systemfehler.

Wir müs­sen uns entscheiden!!

Lei­men, den 20. April 2021

Andre­as Kieß­ling, ener­gy design

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

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