Recht auf informationelle und energetische Selbstbestimmung
Herausforderungen führen zu neuen Chancen
Der Einsatz erneuerbarer Energie ist ein grundlegendes Mittel gegen den Klimawandel. Die Nutzung führt aber auch zu neuen Denkweisen und Chancen für alle gesellschaftlichen Akteure. Dabei geht es nicht nur um Technologien, obwohl ich als Physiker und Informatiker eine gewisse technologische Verliebtheit nicht leugnen kann. Wendet man den Blick von den bisherigen Strukturen des Energiemarktes ab und gestaltet die energetische Selbstbestimmung, werden spannende Möglichkeiten erkennbar. Um den Herausforderungen der Zukunft zu begenen, gilt es Scheuklappen abzusetzen.
Primär führen zwei Denkansätze zur Forderung nach autonomen Energiekonzepten, die am Beispiel des „AutonomieLabs Leimen“ im Rahmen des Projektes C/sells demonstriert wurden.
Erstens adressiere ich als Physiker eine grundsätzliche Position bezüglich des Zugriffes auf Energie als Grundrecht des Menschen. Die Begriffe Markt- und Netzdienlichkeit oder Systemdienlichkeit prägen die Konzepte der Energiewirtschaft. C/sells ergänzte den Begriff Lebensdienlichkeit. Hierbei stehen Beteiligung, Selbstbestimmung und Zusammenwirken im Zentrum.
Zweitens betrachte ich als ehemaliger Kommunalpolitiker besonders die Gestaltungs- und Wertschöpfungsmöglichkeiten für Gebäude‑, Stadt- und Landschaftsentwickler sowie für Betreiber als auch kommunale und regionale Vertreter. Der Wandel schafft eine Vielfalt an Lösungswegen sowie neue Formen des nachhaltigen Wohnens, des Lebens und des Arbeitens.
Teilweise halten konservative Vertreter des bisherigen Energiesystems die Eigenversorgung mit Energie und autonome Gestaltung als Systemfehler. Es stellt sich aber die Frage, inwiefern der Staat die Form des Zugriffes auf Energie durch Bürger und Unternehmen bestimmen darf. Im Projekt C/sells wurde in intensiven Diskussionen das Verhältnis von Autonomie und Solidarität abgewogen. Zur Umsetzung neuer, autonomer Gestaltungsformen wählte das Projekt den Begriff Energiezelle. Weiterhin schließt der entsprechende Architekturvorschlag mit verbundenen Energiezellen das soldarische Prinzip des Energieverbundsystems ein. Eine grundsätzliche Betrachtung bewertet hierzu Energie in Bezug auf das Recht auf Autonomie im Verbund.
Energetische Selbstbestimmung durch autonome Energiezellen
Alle Anstrengungen der Physiker sind darauf gerichtet, die Welt möglichst einfach zu beschreiben. Hierzu werden drei Handlungsebenen genutzt.
Dabei untersuchten die Wissenschaftler bis vor rund 100 Jahren zuerst materielle, also stoffliche Dinge, ihre Bewegungen und Wechselwirkungen.
Auf dieser Basis folgte die Untersuchung wirkender Kräfte auf Grundlage von Energie, die als Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeit beschrieben wird.
Schlussendlich entdeckte die moderne Physik die Bedeutung der in einem System enthaltenen Information und des Zuganges zu dieser Information durch Kommunikation. Information ist die Grundlage von Unterschieden und damit der Erzeugung von Wirkungsfähigkeiten, die wir als Energie beschreiben.
Hoffentlich folgt dieser starken Vereinfachung des Physikerhandwerkes kein Sturm der Entrüstung der Kollegen. Aber diese Betrachtung hilft ganz praktisch bei der Diskussion von Menschenrechten weiter.
Auf der einen Seite benötigen wir grundlegende materielle Dinge zum Überleben. Dies betrifft insbesondere den gleichberechtigten Zugang zu Wasser und Nahrung.
Anderseits besitzt die informationelle Selbstbestimmung im Rechtssystem einen hohen Stellenwert. Sie ist in nationalen Gesetzen verankert, aber noch nicht Teil der Verfassung oder Grundrechte-Charta. Im Rahmen der Digitalisierung und Vernetzung der Welt existieren Vorschläge zur Erweiterung der Charta.
Das Recht auf energetische Selbstbestimmung wird bisher noch nicht auf breiter Front diskutiert. Dies ist seltsam. Die mächtigsten Unternehmen der Welt verdienen Geld mit Information sowie mit energetischen Ressourcen. Länder mit einem höheren Grad an Energiebereitstellung besitzen mehr Potentiale für Arbeitsplätze und sind bei der Berechnung des Einkommens pro Kopf reicher. Den ärmsten Ländern mangelt es an ausreichendem Zugriff auf Energie.
Insofern folgen in logischer Konsequenz der Begriff Energiezelle und Formen autonomer Gestaltung als Mittel für energetische Selbstbestimmung.
Energetische Selbstbestimmung im AutonomieLab Leimen
Das Wechselstromsystem von Nikola Tesla führte Ende des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit zentralen Energieressourcen wie Wasserkraft, Kohle und Öl schnell zur Zentralisierung der Energieumwandlung, aber auch der Lieferung und Steuerung von Energieangeboten. Aus vielen kleinen Elektrizitätsanbietern wurden weltweit mächtige Energiekonzerne.
Sonne, Wind und Erdwärme sowie weitere, sich in der Zukunft ergebende technologische Möglichkeiten verändern das Spiel. Letztendlich kann jeder Einzelne zum Energieanbieter werden. Schon der verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer bezeichnete insbesondere Solarenergie als Wertschöpfungschance für Kommunen. Aber damit verändert sich radikal das Marktgeschehen und es gibt mächtige Gegner.
Somit folgert der Autor ein Grundrecht für alle gesellschaftlichen Gruppen, das Handeln bezüglich eigener Energiekreisläufe in Verbindung mit neuen Gestaltungsformen von Gebäuden in eigene Hände zu nehmen. Das Projekt C/sells fordert in energiepolitischen Positionen, dass dies nicht durch überbordende Regulierung und Bürokratisierung verhindert werden darf. Stattdessen ist der Rahmen zur sicheren Funktion autonomer Gestaltung im Verbund zu schaffen.
Die für energetische Selbstbestimmung notwendige technische Ausstattung des Gebäudes demonstrierte das AutonomieLab Leimen. Zielstellungen waren sowohl die Inselfähigkeit als auch die Flexibilität im Verbund. Die Gebäudeausstattung umfasst Anlagen und Geräte zur Gewinnung, Speicherung und Nutzung von Energie sowie einen digitalen Netzanschluss zur Verbindung mit der Außenwelt und ein autonomes Energiemanagementsystem zur Regelung der Energieflüsse in der Energiezelle.
Andreas Kießling, energy design, Leimen / Heidelberg — 1. September 2021