Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung - Chicago Pole

Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung

Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung

Der Mann mit der Axt

Von der Ent­de­ckung der Kern­spal­tung im Jah­re 1938 in Deutsch­land bis zur ers­ten Demons­tra­ti­on und Beschrei­bung der Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung im Jah­re 1942 in Chi­ca­go sowie der ers­ten Atom­bom­be im Jahr 1945 ver­gin­gen nur sie­ben Jah­re. Die­se Par­al­le­li­tät der Ent­fes­se­lung des ato­ma­ren Feu­ers des Pro­me­theus sowie des zwei­ten Welt­krie­ges set­zen das unheil­vol­le Wett­rüs­ten mit der Gefahr der Mensch­heits­ver­nich­tung in Gang. Kern­ener­gie wur­de aber auch als Ver­hei­ßung einer bes­se­ren Zukunft mit genü­gend Ener­gie für alle Men­schen wahr­ge­nom­men. Höchs­te Risi­ken in Ver­bin­dung mit dem Nut­zen führ­ten zu einer stän­dig ambi­va­len­ten Dis­kus­si­on hin­sicht­lich der Anwen­dung die­ser Ener­gie­quel­le, die im glo­ba­len Maß­stab und in Bezug auf die Anstren­gun­gen zur Wei­ter­ent­wick­lung zuge­hö­ri­ger Tech­no­lo­gien sicher­lich nicht abge­schlos­sen ist. 

Erst haben die Men­schen das Atom gespal­ten, jetzt spal­tet das Atom die Men­schen.“, Ger­hard Uhlen­bruck (*1929), dt. Apho­ris­ti­ker, Immun­bio­lo­ge u. Hoch­schul­leh­rer 

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Ener­gie der Atomkerne
  2. Ener­gie­po­ten­zia­le der Kernspaltung
  3. Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung oder „Der Mann mit der Axt”
  4. Tech­no­lo­gie­su­che zur Ener­gie­ge­win­nung mit Kern­spal­tung in der Gene­ra­ti­on I
  5. Leicht­was­ser­re­ak­to­ren der Gene­ra­ti­on II
  6. Har­ris­burg — Tscher­no­byl — Fukushima
  7. Neue Sicher­heits­kon­zep­te und die Gene­ra­ti­on III
  8. Kern­kraft­wer­ke neu gedacht und die Gene­ra­ti­on IV
  9. Die Ener­gie der Son­ne durch Kern­fu­si­on und auf­kom­men­de Technologien

Sie verloren ihre Unschuld

Albert Ein­stein for­mu­lier­te im Jahr 1905 den Zusam­men­hang zwi­schen Ener­gie und Mas­se. Ener­gie ist gleich der Mas­se mal dem Qua­drat der Lichtgeschwindigkeit.

Die Ent­de­ckung der Kern­spal­tung durch den Che­mi­ker Otto Hahn gemein­sam mit Fritz Straß­mann und der Kern­phy­si­ke­rin Lise Meit­ner im Jah­re 1938 offen­bar­te die prak­ti­schen Mög­lich­kei­ten die­ser Glei­chung. Dafür erhielt Otto Hahn im Jahr 1945 den Nobel­preis für Che­mie. Der zeit­li­che Zusam­men­hang die­ser For­schun­gen mit dem zwei­ten Welt­krieg erwies sich bald als trei­ben­de Kraft einer Epo­che des Wett­rüs­tens. Füh­ren­de Wis­sen­schaft­ler – unter ihnen auch Albert Ein­stein — warn­ten die US-Regie­rung vor einem mög­li­chen Ein­satz von Kern­spal­tungs­waf­fen durch die Deut­schen. Sie emp­fah­len die Ent­wick­lung der Atom­bom­be in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Die Zusam­men­füh­rung der klügs­ten Köp­fe in Natur­wis­sen­schaft und Mathe­ma­tik unter wis­sen­schaft­li­cher Lei­tung des deut­schen Phy­si­kers Robert Oppen­hei­mer, der direk­te und indi­rek­te Ein­satz von 150.000 Men­schen sowie eine Mil­li­ar­den Dol­lar schwe­re Finan­zie­rung führ­ten zum Bau der ers­ten Atom­bom­ben. Mit dem Ein­satz die­ser Waf­fen im August 1945 in den japa­ni­schen Städ­ten Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki ver­lo­ren die Phy­si­ker ihre Unschuld. Doch dies war nur der Anfang.

Das Ende des zwei­ten Welt­krie­ges war gleich­zei­tig der Beginn eines Zeit­al­ters der Tei­lung unse­res Pla­ne­ten in zwei feind­li­che Blö­cke. Der Wie­der­auf­bau Euro­pas schuf einen ste­tig wach­sen­den Ener­gie­hun­ger. Die Idee zum Ein­satz der Kern­spal­tung als Ener­gie­quel­le war nahe­lie­gend. Damit star­te­te die Ent­wick­lung von Kern­re­ak­to­ren für den Ein­satz in der Strom­erzeu­gung. Gleich­zei­tig führ­te die Spal­tung Euro­pas mit Stell­ver­tre­ter­kon­flik­ten in ande­ren Tei­len der Welt zur Spi­ra­le des Wett­rüs­tens und der Wei­ter­ent­wick­lung von Atom­bom­ben mit immer grö­ße­rer Spreng­kraft. Auch vor der Quel­le der Son­nen­en­er­gie mach­te dies kei­nen Halt. Nach Ent­wick­lung der Was­ser­stoff­bom­be, die statt der Kern­spal­tung die Kern­fu­si­on nutzt, schien das Ende der Mensch­heit nahe.

Sowohl die Ent­wick­lung von Kern­re­ak­to­ren als auch von Kern­waf­fen mit zuge­hö­ri­ger Rake­ten­tech­nik ver­schlang immense Finanz­mit­tel. Die Furcht vor Auf­rüs­tung der jewei­lig ande­ren Sei­te führ­te zur Prio­ri­sie­rung der Waf­fen­ent­wick­lung. Somit muss­ten sich tech­no­lo­gi­sche Kon­zep­te zur Umset­zung der Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung für die Ener­gie­ge­win­nung an ihrer Nutz­bar­keit für die Rüs­tungs­ma­schi­ne­rie mes­sen. 

Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung und zugehörige Prozeduren

Brennstoffe

Im Kapi­tel „Ener­gie­po­ten­zia­le der Kern­spal­tung“ beschäf­tig­ten wir uns mit den Zuta­ten der Tech­no­lo­gie zur Ener­gie­ge­win­nung mit gesteu­er­ter Kern­spal­tung. Genau wie beim Kochen genügt die Kennt­nis der Rezep­tur nicht, um das per­fek­te Gericht zuzu­be­rei­ten. Der Koch muss auch die Zube­rei­tungs­schrit­te ken­nen, um die Zuta­ten in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge ein­zu­set­zen und zu nut­zen. Des­halb gehen wir zunächst auf die Aus­wahl mög­li­cher Zuta­ten und Pro­ze­du­ren ein. Vor­erst belas­sen wir es bei weni­gen grund­le­gen­den Infor­ma­tio­nen, um den Über­blick zu straf­fen. Im Rah­men der ver­schie­de­nen Tech­no­lo­gien in den nächs­ten Kapi­teln wer­den wir die Zuta­ten aus­führ­li­cher betrachten.

Zur Rezep­tur gehört der „Brenn­stoff“. Des­sen Spal­tung kann direkt erfol­gen oder durch Umwand­lung eines ande­ren Ele­men­tes gewon­nen, qua­si mit einer Kern­re­ak­ti­on gebrü­tet wer­den. Hier­zu kam zuerst direkt spalt­ba­res Uran-235 in Fra­ge. Aber auch Plu­to­ni­um-239, das bei Kern­re­ak­tio­nen ent­steht, sowie Tho­ri­um-232, das in spalt­ba­res Uran-233 umge­wan­delt wer­den kann, fan­den bei der Ent­wick­lung ers­ter Kern­re­ak­to­ren Beach­tung. 

Der Brenn­stoff kann im fes­ten als auch im flüs­si­gen Zustand ein­ge­setzt wer­den. Beim Ein­satz fes­ter Brenn­stof­fe ist die Ver­ar­bei­tung zu Pel­lets, die dann in Brenn­stä­be gesta­pelt wer­den, weit ver­brei­tet. Aber auch die Ver­ar­bei­tung zu klei­nen Kugeln, die als Kugel­hau­fen in den Reak­tor ein­ge­bracht wer­den, ist mög­lich. 

Langsame und schnelle Neutronen

Neu­tro­nen lösen die Kern­spal­tungs­pro­zes­se des Brenn­stof­fes aus. Kern­phy­si­ker bestimm­ten die Spal­tungs­wahr­schein­lich­keit in Abhän­gig­keit von der Geschwin­dig­keit der Neu­tro­nen. Dabei stell­ten sie fest, dass lang­sa­me Neu­tro­nen mit höhe­rer Wahr­schein­lich­keit die Spal­tung der Atom­ker­ne aus­lö­sen als schnel­le Neu­tro­nen, die auch als ther­mi­sche Neu­tro­nen bezeich­net wer­den. Aber da mit schnel­len Neu­tro­nen wie­der­um ande­re Kern­brenn­stof­fe erzeugt – oder auch erbrü­tet — wer­den konn­ten, fan­den Rezep­tu­ren und Pro­ze­du­ren mit schnel­len Neu­tro­nen unter dem Begriff „Schnel­ler Brü­ter“ wei­te­re Beachtung.

Da sich Reak­to­ren mit ther­mi­schen Neu­tro­nen durch­set­zen, wur­de als wei­te­re Zutat der Rezep­tur zur Kern­spal­tung ein Mode­ra­tor benö­tigt, des­sen Auf­ga­be in der Abbrem­sung der bei Spal­tungs­re­ak­tio­nen frei­wer­den­den schnel­len Neu­tro­nen besteht. Neu­tro­nen wer­den dabei am bes­ten von Teil­chen abge­bremst, die nicht viel schwe­rer sind. Wenn eine Stahl­ku­gel gegen eine gleich schwe­re Stahl­ku­gel stößt, wird die sto­ßen­de Kugel lang­sa­mer und die ange­sto­ße­ne Kugel rollt wei­ter. Stößt aber eine Stahl­ku­gel gegen einen ton­nen­schwe­ren Stahl­block, prallt die Kugel mit glei­cher Geschwin­dig­keit zurück und der Stahl­block bewegt sich nicht. Ana­log ver­hal­ten sich Atom­ker­ne gegen­über den Neu­tro­nen. Schwe­re Ele­men­te sto­ßen schnel­le Neu­tro­nen ein­fach zurück. Bei Zusam­men­stö­ßen mit leich­ten Atom­ker­nen wer­den die sto­ßen­den Neu­tro­nen lang­sa­mer und die ange­sto­ße­nen Ato­me des Mode­ra­tors neh­men die Bewe­gungs­en­er­gie auf. 

Neutronenquelle und Neutronenabsorber

Um dau­er­haft Ener­gie abzu­ge­ben, hält ein Kern­re­ak­tor eine Ket­ten­re­ak­ti­on In Gang. Dabei erzeugt jeder gespal­te­ne Atom­kern neue Neu­tro­nen, die wie­der­um Atom­ker­ne spal­ten kön­nen. Die Spal­tungs­vor­gän­ge kön­nen expo­nen­ti­ell anwach­sen und somit in eine ver­hee­ren­de Explo­si­on mün­den. Aus die­sem Grun­de muss die Rezep­tur zur gesteu­er­ten Kern­spal­tung eine Zutat beinhal­ten, die freie Neu­tro­nen je nach Bedarf ein­fängt. Für die­se Zutat unter der Bezeich­nung Neu­tro­nen­ab­sor­ber gibt es ver­schie­de­ne Möglichkeiten.

Ein­ge­setzt wer­den bei­spiels­wei­se das Metall Cad­mi­um oder Bor in Form von Bor­säu­re. Tref­fen Neu­tro­nen auf Atom­ker­ne die­ser Mate­ria­li­en, kön­nen sie sich anla­gern und wan­deln die Ele­men­te in eine Vari­an­te mit höhe­rer Neu­tro­nen­zahl um. Sie absor­bie­ren also über­schüs­si­ge Neu­tro­nen. Reak­tor­steu­er­stä­be zur Rege­lung der Neu­tro­nen­zahl ent­hal­ten Ele­men­te mit gro­ßer Wir­kungs­wahr­schein­lich­keit für eine Absorp­ti­ons­re­ak­ti­on, bei­spiels­wei­se Cad­mi­um oder Bor. Bei Reak­to­ren mit Was­ser als Kühl­mit­tel wird auch Bor­säu­re zuge­setzt, um durch die Kon­zen­tra­ti­ons­än­de­rung die Neu­tro­nen­zahl zu regeln. Die Zuga­be von Bor­säu­re in das Was­ser ermög­licht auch die Not­ab­schal­tung, wenn die Steu­er­stä­be versagen.

Da erst mit Kern­spal­tun­gen Neu­tro­nen frei­ge­setzt wer­den, die wei­te­re Kern­spal­tun­gen bewir­ken, benö­tigt der Start der Ket­ten­re­ak­ti­on eine geson­der­te Neu­tro­nen­quel­le. Hier­zu wird zum Hoch­fah­ren des Kern­re­ak­tors eine Neu­tro­nen­quel­le in den Bereich der Brenn­stof­fe ein­ge­fah­ren; zum Bei­spiel Cali­for­ni­um-252. 

Wärmeenergie und Kühlung

Die dau­er­haf­te Ket­ten­re­ak­ti­on im Reak­tor erzeugt somit her­um­flie­gen­de Spalt­pro­duk­te und Neu­tro­nen. Die mitt­le­re Bewe­gungs­en­er­gie aller Teil­chen bestimmt die Tem­pe­ra­tur des Medi­ums. Je höher der Tem­pe­ra­tur­un­ter­schied zur Umge­bung ist, des­to mehr Bewe­gungs­en­er­gie kann an die Umge­bung in Form von Wär­me­en­er­gie abge­ge­ben wer­den. Ver­schie­de­ne flüs­si­ge oder gas­för­mi­ge Umge­bungs­me­di­en kön­nen im Kern­re­ak­tor die Wär­me auf­neh­men, abtrans­por­tie­ren und zur Umwand­lung der Wär­me­en­er­gie in ande­re Ener­gie­for­men genutzt wer­den. Die ers­ten Reak­tor­ty­pen ver­wen­de­ten Was­ser. Aber auch Flüs­sig­s­al­ze oder flüs­si­ge Metal­le kön­nen als Medi­um zur Auf­nah­me von Wär­m­ener­gie und zur Küh­lung der hei­ßen Zone der Kern­spal­tung im Reak­tor genutzt werden.

Beim Ein­satz von Was­ser als Kühl­mit­tel sind ver­schie­de­ne Pro­ze­du­ren umsetz­bar. Unter nor­ma­lem Luft­druck auf Mee­res­spie­gel­ni­veau sie­det Was­ser bei 100 Grad Cel­si­us. Ent­spre­chen­de Reak­to­ren wer­den des­halb als Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren bezeich­net. Sie erzeu­gen den Dampf zum Antrieb der Tur­bi­nen direkt im Reak­tor. Bei Kern­kraft­wer­ken mit nur einem Kühl­kreis­lauf besteht ein erhöh­tes Risi­ko für eine radio­ak­ti­ve Kon­ta­mi­na­ti­on außer­halb des Reak­tor­be­rei­ches. Aus die­sem Grund sowie auf­grund der mög­li­chen kom­pak­te­ren Bau­wei­se ent­wi­ckel­ten Wis­sen­schaft­ler und Inge­nieu­re den soge­nann­ten Druck­was­ser­re­ak­tor. Was­ser wird bei die­sem Reak­tor­typ unter so hohen Druck gesetzt, dass die Sie­de­tem­pe­ra­tur auf 300 Grad Cel­si­us steigt. Damit ent­ste­hen im Nor­mal­be­trieb nur weni­ge Dampf­bla­sen. Die Dampf­erzeu­gung erfolgt in einem zwei­ten Wasserkreislauf.

Die­ser Sekun­där­kreis­lauf muss nun die mit dem Kühl­mit­tel trans­por­tier­te Wär­me über einen Wär­me­tau­scher auf­neh­men und dem eigent­li­chen Ver­wen­dungs­zweck, der Erzeu­gung elek­tri­scher Ener­gie, zufüh­ren. Dar­aus erge­ben sich ver­schie­de­ne Umset­zungs­for­men von Pri­mär- und Sekun­där­kreis­läu­fen sowie der ange­schlos­se­nen Tur­bi­nen und Gene­ra­to­ren. Dar­auf gehen wir noch in den Kapi­teln zu den ver­schie­de­nen Kraft­werks­ge­ne­ra­tio­nen ein. 

Sicherheit und Abfälle

Schluss­end­lich benö­tigt ein Kern­re­ak­tor ver­schie­de­ne Zuta­ten zur Gewähr­leis­tung der Kraft­werks­si­cher­heit und zum Schutz der Men­schen. Das gilt ins­be­son­de­re für Maß­nah­men, die das Schmel­zen des Kern­brenn­stof­fes und das Ein­tre­ten in den Erd­bo­den sowie das Frei­set­zen von hoch radio­ak­ti­vem Mate­ri­al bei explo­si­ven Vor­gän­gen nach einem Kon­troll­ver­lust bezüg­lich der Ket­ten­re­ak­ti­on ver­hin­dern sol­len. Dazu gehö­ren phy­si­ka­li­sche Funk­tio­nen, wie zum Bei­spiel der noch zu erklä­ren­de  Dampf­bla­sen­ko­ef­fi­zi­ent oder die Aus­deh­nung des Kern­brenn­stof­fes im Not­fall. Dazu gehö­ren aber eben­so tech­ni­sche Ein­rich­tun­gen, die die wei­te­re akti­ve oder pas­si­ve Küh­lung des Brenn­stof­fes bei Abschal­tung und Aus­fall der exter­nen Strom­ver­sor­gung sicher­stel­len. Wei­ter­hin ist das Abküh­len von aus­ge­brann­tem und aus dem Reak­tor ent­fern­tem Brenn­ma­te­ri­al zu gewähr­leis­ten. Zum Bei­spiel lagern die Brenn­stä­be klas­si­scher Reak­tor­ty­pen in mit Was­ser gefüll­ten Abkling­be­cken, die eben­so dau­er­haft zu küh­len sind. 

Jedes Kraft­werk, dass zur Ener­gie­ge­win­nung Brenn­stof­fe benö­tigt, erzeugt Abfall. Bei der Ver­bren­nung im Koh­le­kraft­werk ent­steht Ruß und Koh­len­di­oxid. Das Kern­kraft­werk erzeugt zwar gerin­ge­re Abfall­men­gen, aber die­se Abfäl­le sind bei bestimm­ten Ver­fah­ren hun­dert­tau­sen­de Jah­re hoch radio­ak­tiv und damit über geo­lo­gi­sche Zeit­räu­me vor mensch­li­chem Zugriff und vor einem Kon­takt mit ande­ren Erd- oder Was­ser­schich­ten sicher zu lagern. 

Die Not­wen­dig­keit der End­la­ge­rung sowie der Kon­troll­ver­lust über die Ket­ten­re­ak­ti­on stel­len bei den ers­ten bei­den Kraft­werks­ge­ne­ra­tio­nen die Haupt­ar­gu­men­te gegen den Ein­satz von Kern­ener­gie dar.

Bezüg­lich der beschrie­be­nen Zuta­ten und Abläu­fe für den Betrieb von Kern­re­ak­to­ren wer­den wir in den nächs­ten Kapi­teln unter­schied­li­che Reak­tor­ty­pen in den Gene­ra­tio­nen I bis IV erläu­tern und ein­ord­nen. 

Der Mann mit der Axt

Wir fas­sen noch ein­mal zusam­men. Um ein Kern­kraft­werk auf Basis der Kern­spal­tung zu bau­en, muss­ten sich Wis­sen­schaft­ler und Inge­nieu­re zu fol­gen­den Kom­po­nen­ten der Rezep­tur Gedan­ken machen:

       I.         Brennstoffe

a.      Wel­che Atom­ker­ne sind für Spal­tungs­vor­gän­ge beson­ders geeignet?

b.     In wel­chem Aggre­gat­zu­stand und in wel­cher Form wird der Brenn­stoff zugeführt?

     II.         Neu­tro­nen­quel­le und Neutroneneinfang

a.      Neu­tro­nen­quel­le zum Start der Kettenreaktion

b.     Neu­tro­nen­ab­sor­ber zum Ein­fan­gen von Neu­tro­nen zwecks Regu­lie­rung oder Unter­bin­dung der Kettenreaktion

    III.          Neu­tro­nen­ge­schwin­dig­keit als Aus­lö­ser der Spal­tungs­pro­zes­se sowie Moderatoren

a.      Lang­sa­me (ther­mi­sche) Neutronen

b.     Schnel­le Neutronen

c.      Mode­ra­tor zum Abbrem­sen der Neu­tro­nen 

    IV.         Wär­me­en­er­gie, Trans­port und Kühlung

a.      Medi­en zur Auf­nah­me der Wär­me­en­er­gie der Spaltungsprodukte

b.     Wär­me­trans­port

c.      Küh­lung

     V.         Sicher­heits­kon­zep­te und Abfallbehandlung

a.      Kern­schmel­ze

b.     Abklin­gen aus­ge­brann­ter Brennstoffe

c.      Abfäl­le und Abfalllagerung

Die auf­ge­führ­ten Rezep­tur­po­si­tio­nen I.a bis V.c wer­den bei der Beschrei­bung ver­schie­de­ner Reak­tor­ty­pen zur Ein­ord­nung und zum Ver­gleich immer wie­der benutzt.

Wie bewäl­tig­ten nun die Pio­nie­re der ers­ten Stun­de die­se Her­aus­for­de­rung beim Bau des ers­ten Kern­re­ak­tors? Der Bau einer Atom­bom­be war dage­gen die ein­fa­che­re Auf­ga­be. Hier­zu muss­te man sich nur um den Brenn­stoff, die initia­le Neu­tro­nen­quel­le sowie die rich­ti­ge Neu­tro­nen­ge­schwin­dig­keit Gedan­ken machen. Der Neu­tro­nen­ein­fang für eine gesteu­er­te Ket­ten­re­ak­ti­on, der Abtrans­port der Wär­me­en­er­gie, die Küh­lung sowie die Abfall­be­hand­lung spiel­ten kei­ne Rol­le. Sicher­heits­kon­zep­te betra­fen nur die Ver­hin­de­rung der unge­plan­ten Zündung.

Trotz­dem umfass­te das ers­te Expe­ri­ment auf dem Weg zur Atom­bom­be im Man­hat­tan-Pro­jekt die Demons­tra­ti­on der gesteu­er­ten Ket­ten­re­ak­ti­on. Der Beweis, dass eine nuklea­re Ket­ten­re­ak­ti­on über­haupt mög­lich ist, wur­de mit dem Pro­jekt Chi­ca­go Pile 1 erbracht. Sicher­heits­kon­zep­te spiel­ten dabei noch eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Heu­te völ­lig undenk­bar, fand die­ses Expe­ri­ment mit­ten in Chi­ca­go auf der Tri­bü­ne eines Fuß­ball­sta­di­ons der städ­ti­schen Uni­ver­si­tät statt. Der Phy­si­ker und Nobel­preis­trä­ger Enri­co Fer­mi lei­te­te das Vor­ha­ben. 

Als Brenn­stoff (Rezep­tur­po­si­ti­on I.a) dien­te Uran im fes­ten Zustand und in Form ein­zel­ner Blö­cke (Rezep­tur­po­si­ti­on I.b) mit der zuvor bestimm­ten kri­ti­schen Mas­se zur Aus­lö­sung einer Ket­ten­re­ak­ti­on. Gra­phit über­nahm die Rol­le des Mode­ra­tors (Rezep­tur­po­si­ti­on III.c) zur Abbrem­sung der bei der Spal­tung frei­wer­den­den schnel­len Neu­tro­nen (Rezep­tur­po­si­ti­on III.b) zu ther­mi­schen Neu­tro­nen (Rezep­tur­po­si­ti­on III.a). Die­se Grund­bau­stei­ne wur­den als sechs Meter hoher Turm mit 5,4 Ton­nen Uran­me­tall und 45 Ton­nen Uran­oxid für den Brenn­stoff sowie 360 Ton­nen Gra­phit für den Mode­ra­tor [Bild­quel­le: Chi­ca­go Pile 1]. Als Steu­er­stä­be zur Neu­tro­nen­ab­sorp­ti­on dien­ten her­aus­zieh­ba­re Cad­mi­um-Stan­gen (Rezep­tur­po­si­ti­on II.b). Das Her­aus­zie­hen der Cad­mi­um-Stan­gen beschleu­nig­te die Ket­ten­re­ak­ti­on und das Ein­fah­ren brems­te die Reak­ti­on ab. Eine Neu­tro­nen­quel­le wur­de nicht ver­wen­det (Rezep­tur­po­si­ti­on II.a), da sich Uran auch spon­tan spal­ten und damit Neu­tro­nen frei­set­zen kann, jedoch nicht zeit­lich deter­mi­niert und steuerbar.

Die­se Kon­struk­ti­on mit­ten in der Stadt war aben­teu­er­lich. Zu ver­zei­hen ist dies nur durch den Umstand, dass damals die Gefah­ren noch unzu­rei­chend bekannt waren. Für wel­ches Sicher­heits­kon­zept ent­schie­den sich die Wis­sen­schaft­ler? Hier kommt der Mann mit der Axt ins Spiel. Über dem Pile hing an einem an der Decke befes­tig­ten, star­ken Seil ein Regel­ele­ment aus Cad­mi­um. Dane­ben stand ein Mann mit einer Axt. Bei einer zu stark anstei­gen­den Leis­tung der Ket­ten­re­ak­ti­on soll­te der Mann mit der Axt das Seil durch­schla­gen. Das Cad­mi­um-Regel­ele­ment wäre her­un­ter­ge­fal­len, um die Reak­ti­on zu stop­pen. Zusätz­lich stan­den drei Mit­ar­bei­ter bereit, um im Not­fall den Chi­ca­go Pile mit einer Cad­mi­um-Salz­lö­sung zu flu­ten. Das ers­te Kon­zept der Schnell­ab­schal­tung war gebo­ren. Seit­her heißt die Reak­tor­schnell­ab­schal­tung Scram. Die­ser eng­li­sche Begriff steht für „abhau­en“ oder „Lei­ne ziehen“.

Da die­ser Ver­suchs­auf­bau nicht das Ziel hat­te, Ener­gie in rele­van­ter Grö­ßen­ord­nung zu gewin­nen und zu nut­zen, wur­den Medi­en zur Wär­me­auf­nah­me, zum Wär­me­trans­port und zur Küh­lung nicht benö­tigt (Rezep­tur­po­si­ti­on IV.a bis IV.c). Eben­so erüb­rig­te sich damit das Pro­blem einer mög­li­chen Kern­schmel­ze durch zu hohe Tem­pe­ra­tu­ren und das not­wen­di­ge Abklin­gen eines hei­ßen und hoch reak­ti­ven Brenn­stof­fes (Rezep­tur­po­si­ti­on V.a und V.b).

Über die Behand­lung des Abfal­les aus die­sem Expe­ri­ment ist nichts bekannt (Rezep­tur­po­si­ti­on V.c).

Am 2. Dezem­ber 1942 konn­te das Expe­ri­ment erfolg­reich durch­ge­führt wer­den. Es demons­trier­te die Mög­lich­keit einer gesteu­er­ten Ket­ten­re­ak­ti­on mit einer Leis­tung von 0,5 Watt. Der Mann mit der Axt Georg Weil sowie die anwe­sen­den Wis­sen­schaft­ler unter Leis­tung von Enri­co Fer­mi ris­kier­ten dafür ihr Leben.

Im nächs­ten Kapi­tel beschäf­ti­gen wir uns mit den Reak­tor­ent­wick­lun­gen der ers­ten Gene­ra­ti­on, die für die Ener­gie­ge­win­nung geeig­ne­te Kon­struk­tio­nen und Varia­tio­nen der Reak­tor­re­zep­tur auf­zeig­ten. 

 

Quellen

[Chi­ca­go Pile 1] Bild: Chi­ca­go Pile 1 — Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung; Rech­te bei Argon­ne Natio­nal Labo­ra­to­ry; This work is licen­sed under Crea­ti­ve Com­mons Attri­bu­ti­on-Non­Com­mer­cial-ShareA­li­ke 2.0 Gene­ric Licen­se; http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

 

Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung” — Lei­men / Hei­del­berg — 20. Dezem­ber 2022

Andre­as Kieß­ling, ener­gy design

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