Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung
Der Mann mit der Axt
Von der Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938 in Deutschland bis zur ersten Demonstration und Beschreibung der Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung im Jahre 1942 in Chicago sowie der ersten Atombombe im Jahr 1945 vergingen nur sieben Jahre. Diese Parallelität der Entfesselung des atomaren Feuers des Prometheus sowie des zweiten Weltkrieges setzen das unheilvolle Wettrüsten mit der Gefahr der Menschheitsvernichtung in Gang. Kernenergie wurde aber auch als Verheißung einer besseren Zukunft mit genügend Energie für alle Menschen wahrgenommen. Höchste Risiken in Verbindung mit dem Nutzen führten zu einer ständig ambivalenten Diskussion hinsichtlich der Anwendung dieser Energiequelle, die im globalen Maßstab und in Bezug auf die Anstrengungen zur Weiterentwicklung zugehöriger Technologien sicherlich nicht abgeschlossen ist.
“Erst haben die Menschen das Atom gespalten, jetzt spaltet das Atom die Menschen.“, Gerhard Uhlenbruck (*1929), dt. Aphoristiker, Immunbiologe u. Hochschullehrer
Inhaltsverzeichnis
- Die Energie der Atomkerne
- Energiepotenziale der Kernspaltung
- Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung oder „Der Mann mit der Axt”
- Technologiesuche zur Energiegewinnung mit Kernspaltung in der Generation I
- Leichtwasserreaktoren der Generation II
- Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima
- Neue Sicherheitskonzepte und die Generation III
- Kernkraftwerke neu gedacht und die Generation IV
- Die Energie der Sonne durch Kernfusion und aufkommende Technologien
Sie verloren ihre Unschuld
Albert Einstein formulierte im Jahr 1905 den Zusammenhang zwischen Energie und Masse. Energie ist gleich der Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit.
Die Entdeckung der Kernspaltung durch den Chemiker Otto Hahn gemeinsam mit Fritz Straßmann und der Kernphysikerin Lise Meitner im Jahre 1938 offenbarte die praktischen Möglichkeiten dieser Gleichung. Dafür erhielt Otto Hahn im Jahr 1945 den Nobelpreis für Chemie. Der zeitliche Zusammenhang dieser Forschungen mit dem zweiten Weltkrieg erwies sich bald als treibende Kraft einer Epoche des Wettrüstens. Führende Wissenschaftler – unter ihnen auch Albert Einstein — warnten die US-Regierung vor einem möglichen Einsatz von Kernspaltungswaffen durch die Deutschen. Sie empfahlen die Entwicklung der Atombombe in den Vereinigten Staaten. Die Zusammenführung der klügsten Köpfe in Naturwissenschaft und Mathematik unter wissenschaftlicher Leitung des deutschen Physikers Robert Oppenheimer, der direkte und indirekte Einsatz von 150.000 Menschen sowie eine Milliarden Dollar schwere Finanzierung führten zum Bau der ersten Atombomben. Mit dem Einsatz dieser Waffen im August 1945 in den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki verloren die Physiker ihre Unschuld. Doch dies war nur der Anfang.
Das Ende des zweiten Weltkrieges war gleichzeitig der Beginn eines Zeitalters der Teilung unseres Planeten in zwei feindliche Blöcke. Der Wiederaufbau Europas schuf einen stetig wachsenden Energiehunger. Die Idee zum Einsatz der Kernspaltung als Energiequelle war naheliegend. Damit startete die Entwicklung von Kernreaktoren für den Einsatz in der Stromerzeugung. Gleichzeitig führte die Spaltung Europas mit Stellvertreterkonflikten in anderen Teilen der Welt zur Spirale des Wettrüstens und der Weiterentwicklung von Atombomben mit immer größerer Sprengkraft. Auch vor der Quelle der Sonnenenergie machte dies keinen Halt. Nach Entwicklung der Wasserstoffbombe, die statt der Kernspaltung die Kernfusion nutzt, schien das Ende der Menschheit nahe.
Sowohl die Entwicklung von Kernreaktoren als auch von Kernwaffen mit zugehöriger Raketentechnik verschlang immense Finanzmittel. Die Furcht vor Aufrüstung der jeweilig anderen Seite führte zur Priorisierung der Waffenentwicklung. Somit mussten sich technologische Konzepte zur Umsetzung der Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung für die Energiegewinnung an ihrer Nutzbarkeit für die Rüstungsmaschinerie messen.
Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung und zugehörige Prozeduren
Brennstoffe
Im Kapitel „Energiepotenziale der Kernspaltung“ beschäftigten wir uns mit den Zutaten der Technologie zur Energiegewinnung mit gesteuerter Kernspaltung. Genau wie beim Kochen genügt die Kenntnis der Rezeptur nicht, um das perfekte Gericht zuzubereiten. Der Koch muss auch die Zubereitungsschritte kennen, um die Zutaten in der richtigen Reihenfolge einzusetzen und zu nutzen. Deshalb gehen wir zunächst auf die Auswahl möglicher Zutaten und Prozeduren ein. Vorerst belassen wir es bei wenigen grundlegenden Informationen, um den Überblick zu straffen. Im Rahmen der verschiedenen Technologien in den nächsten Kapiteln werden wir die Zutaten ausführlicher betrachten.
Zur Rezeptur gehört der „Brennstoff“. Dessen Spaltung kann direkt erfolgen oder durch Umwandlung eines anderen Elementes gewonnen, quasi mit einer Kernreaktion gebrütet werden. Hierzu kam zuerst direkt spaltbares Uran-235 in Frage. Aber auch Plutonium-239, das bei Kernreaktionen entsteht, sowie Thorium-232, das in spaltbares Uran-233 umgewandelt werden kann, fanden bei der Entwicklung erster Kernreaktoren Beachtung.
Der Brennstoff kann im festen als auch im flüssigen Zustand eingesetzt werden. Beim Einsatz fester Brennstoffe ist die Verarbeitung zu Pellets, die dann in Brennstäbe gestapelt werden, weit verbreitet. Aber auch die Verarbeitung zu kleinen Kugeln, die als Kugelhaufen in den Reaktor eingebracht werden, ist möglich.
Langsame und schnelle Neutronen
Neutronen lösen die Kernspaltungsprozesse des Brennstoffes aus. Kernphysiker bestimmten die Spaltungswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit der Neutronen. Dabei stellten sie fest, dass langsame Neutronen mit höherer Wahrscheinlichkeit die Spaltung der Atomkerne auslösen als schnelle Neutronen, die auch als thermische Neutronen bezeichnet werden. Aber da mit schnellen Neutronen wiederum andere Kernbrennstoffe erzeugt – oder auch erbrütet — werden konnten, fanden Rezepturen und Prozeduren mit schnellen Neutronen unter dem Begriff „Schneller Brüter“ weitere Beachtung.
Da sich Reaktoren mit thermischen Neutronen durchsetzen, wurde als weitere Zutat der Rezeptur zur Kernspaltung ein Moderator benötigt, dessen Aufgabe in der Abbremsung der bei Spaltungsreaktionen freiwerdenden schnellen Neutronen besteht. Neutronen werden dabei am besten von Teilchen abgebremst, die nicht viel schwerer sind. Wenn eine Stahlkugel gegen eine gleich schwere Stahlkugel stößt, wird die stoßende Kugel langsamer und die angestoßene Kugel rollt weiter. Stößt aber eine Stahlkugel gegen einen tonnenschweren Stahlblock, prallt die Kugel mit gleicher Geschwindigkeit zurück und der Stahlblock bewegt sich nicht. Analog verhalten sich Atomkerne gegenüber den Neutronen. Schwere Elemente stoßen schnelle Neutronen einfach zurück. Bei Zusammenstößen mit leichten Atomkernen werden die stoßenden Neutronen langsamer und die angestoßenen Atome des Moderators nehmen die Bewegungsenergie auf.
Neutronenquelle und Neutronenabsorber
Um dauerhaft Energie abzugeben, hält ein Kernreaktor eine Kettenreaktion In Gang. Dabei erzeugt jeder gespaltene Atomkern neue Neutronen, die wiederum Atomkerne spalten können. Die Spaltungsvorgänge können exponentiell anwachsen und somit in eine verheerende Explosion münden. Aus diesem Grunde muss die Rezeptur zur gesteuerten Kernspaltung eine Zutat beinhalten, die freie Neutronen je nach Bedarf einfängt. Für diese Zutat unter der Bezeichnung Neutronenabsorber gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Eingesetzt werden beispielsweise das Metall Cadmium oder Bor in Form von Borsäure. Treffen Neutronen auf Atomkerne dieser Materialien, können sie sich anlagern und wandeln die Elemente in eine Variante mit höherer Neutronenzahl um. Sie absorbieren also überschüssige Neutronen. Reaktorsteuerstäbe zur Regelung der Neutronenzahl enthalten Elemente mit großer Wirkungswahrscheinlichkeit für eine Absorptionsreaktion, beispielsweise Cadmium oder Bor. Bei Reaktoren mit Wasser als Kühlmittel wird auch Borsäure zugesetzt, um durch die Konzentrationsänderung die Neutronenzahl zu regeln. Die Zugabe von Borsäure in das Wasser ermöglicht auch die Notabschaltung, wenn die Steuerstäbe versagen.
Da erst mit Kernspaltungen Neutronen freigesetzt werden, die weitere Kernspaltungen bewirken, benötigt der Start der Kettenreaktion eine gesonderte Neutronenquelle. Hierzu wird zum Hochfahren des Kernreaktors eine Neutronenquelle in den Bereich der Brennstoffe eingefahren; zum Beispiel Californium-252.
Wärmeenergie und Kühlung
Die dauerhafte Kettenreaktion im Reaktor erzeugt somit herumfliegende Spaltprodukte und Neutronen. Die mittlere Bewegungsenergie aller Teilchen bestimmt die Temperatur des Mediums. Je höher der Temperaturunterschied zur Umgebung ist, desto mehr Bewegungsenergie kann an die Umgebung in Form von Wärmeenergie abgegeben werden. Verschiedene flüssige oder gasförmige Umgebungsmedien können im Kernreaktor die Wärme aufnehmen, abtransportieren und zur Umwandlung der Wärmeenergie in andere Energieformen genutzt werden. Die ersten Reaktortypen verwendeten Wasser. Aber auch Flüssigsalze oder flüssige Metalle können als Medium zur Aufnahme von Wärmenergie und zur Kühlung der heißen Zone der Kernspaltung im Reaktor genutzt werden.
Beim Einsatz von Wasser als Kühlmittel sind verschiedene Prozeduren umsetzbar. Unter normalem Luftdruck auf Meeresspiegelniveau siedet Wasser bei 100 Grad Celsius. Entsprechende Reaktoren werden deshalb als Siedewasserreaktoren bezeichnet. Sie erzeugen den Dampf zum Antrieb der Turbinen direkt im Reaktor. Bei Kernkraftwerken mit nur einem Kühlkreislauf besteht ein erhöhtes Risiko für eine radioaktive Kontamination außerhalb des Reaktorbereiches. Aus diesem Grund sowie aufgrund der möglichen kompakteren Bauweise entwickelten Wissenschaftler und Ingenieure den sogenannten Druckwasserreaktor. Wasser wird bei diesem Reaktortyp unter so hohen Druck gesetzt, dass die Siedetemperatur auf 300 Grad Celsius steigt. Damit entstehen im Normalbetrieb nur wenige Dampfblasen. Die Dampferzeugung erfolgt in einem zweiten Wasserkreislauf.
Dieser Sekundärkreislauf muss nun die mit dem Kühlmittel transportierte Wärme über einen Wärmetauscher aufnehmen und dem eigentlichen Verwendungszweck, der Erzeugung elektrischer Energie, zuführen. Daraus ergeben sich verschiedene Umsetzungsformen von Primär- und Sekundärkreisläufen sowie der angeschlossenen Turbinen und Generatoren. Darauf gehen wir noch in den Kapiteln zu den verschiedenen Kraftwerksgenerationen ein.
Sicherheit und Abfälle
Schlussendlich benötigt ein Kernreaktor verschiedene Zutaten zur Gewährleistung der Kraftwerkssicherheit und zum Schutz der Menschen. Das gilt insbesondere für Maßnahmen, die das Schmelzen des Kernbrennstoffes und das Eintreten in den Erdboden sowie das Freisetzen von hoch radioaktivem Material bei explosiven Vorgängen nach einem Kontrollverlust bezüglich der Kettenreaktion verhindern sollen. Dazu gehören physikalische Funktionen, wie zum Beispiel der noch zu erklärende Dampfblasenkoeffizient oder die Ausdehnung des Kernbrennstoffes im Notfall. Dazu gehören aber ebenso technische Einrichtungen, die die weitere aktive oder passive Kühlung des Brennstoffes bei Abschaltung und Ausfall der externen Stromversorgung sicherstellen. Weiterhin ist das Abkühlen von ausgebranntem und aus dem Reaktor entferntem Brennmaterial zu gewährleisten. Zum Beispiel lagern die Brennstäbe klassischer Reaktortypen in mit Wasser gefüllten Abklingbecken, die ebenso dauerhaft zu kühlen sind.
Jedes Kraftwerk, dass zur Energiegewinnung Brennstoffe benötigt, erzeugt Abfall. Bei der Verbrennung im Kohlekraftwerk entsteht Ruß und Kohlendioxid. Das Kernkraftwerk erzeugt zwar geringere Abfallmengen, aber diese Abfälle sind bei bestimmten Verfahren hunderttausende Jahre hoch radioaktiv und damit über geologische Zeiträume vor menschlichem Zugriff und vor einem Kontakt mit anderen Erd- oder Wasserschichten sicher zu lagern.
Die Notwendigkeit der Endlagerung sowie der Kontrollverlust über die Kettenreaktion stellen bei den ersten beiden Kraftwerksgenerationen die Hauptargumente gegen den Einsatz von Kernenergie dar.
Bezüglich der beschriebenen Zutaten und Abläufe für den Betrieb von Kernreaktoren werden wir in den nächsten Kapiteln unterschiedliche Reaktortypen in den Generationen I bis IV erläutern und einordnen.
Der Mann mit der Axt
Wir fassen noch einmal zusammen. Um ein Kernkraftwerk auf Basis der Kernspaltung zu bauen, mussten sich Wissenschaftler und Ingenieure zu folgenden Komponenten der Rezeptur Gedanken machen:
I. Brennstoffe
a. Welche Atomkerne sind für Spaltungsvorgänge besonders geeignet?
b. In welchem Aggregatzustand und in welcher Form wird der Brennstoff zugeführt?
II. Neutronenquelle und Neutroneneinfang
a. Neutronenquelle zum Start der Kettenreaktion
b. Neutronenabsorber zum Einfangen von Neutronen zwecks Regulierung oder Unterbindung der Kettenreaktion
III. Neutronengeschwindigkeit als Auslöser der Spaltungsprozesse sowie Moderatoren
a. Langsame (thermische) Neutronen
b. Schnelle Neutronen
c. Moderator zum Abbremsen der Neutronen
IV. Wärmeenergie, Transport und Kühlung
a. Medien zur Aufnahme der Wärmeenergie der Spaltungsprodukte
b. Wärmetransport
c. Kühlung
V. Sicherheitskonzepte und Abfallbehandlung
a. Kernschmelze
b. Abklingen ausgebrannter Brennstoffe
c. Abfälle und Abfalllagerung
Die aufgeführten Rezepturpositionen I.a bis V.c werden bei der Beschreibung verschiedener Reaktortypen zur Einordnung und zum Vergleich immer wieder benutzt.
Wie bewältigten nun die Pioniere der ersten Stunde diese Herausforderung beim Bau des ersten Kernreaktors? Der Bau einer Atombombe war dagegen die einfachere Aufgabe. Hierzu musste man sich nur um den Brennstoff, die initiale Neutronenquelle sowie die richtige Neutronengeschwindigkeit Gedanken machen. Der Neutroneneinfang für eine gesteuerte Kettenreaktion, der Abtransport der Wärmeenergie, die Kühlung sowie die Abfallbehandlung spielten keine Rolle. Sicherheitskonzepte betrafen nur die Verhinderung der ungeplanten Zündung.
Trotzdem umfasste das erste Experiment auf dem Weg zur Atombombe im Manhattan-Projekt die Demonstration der gesteuerten Kettenreaktion. Der Beweis, dass eine nukleare Kettenreaktion überhaupt möglich ist, wurde mit dem Projekt Chicago Pile 1 erbracht. Sicherheitskonzepte spielten dabei noch eine untergeordnete Rolle. Heute völlig undenkbar, fand dieses Experiment mitten in Chicago auf der Tribüne eines Fußballstadions der städtischen Universität statt. Der Physiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi leitete das Vorhaben.
Als Brennstoff (Rezepturposition I.a) diente Uran im festen Zustand und in Form einzelner Blöcke (Rezepturposition I.b) mit der zuvor bestimmten kritischen Masse zur Auslösung einer Kettenreaktion. Graphit übernahm die Rolle des Moderators (Rezepturposition III.c) zur Abbremsung der bei der Spaltung freiwerdenden schnellen Neutronen (Rezepturposition III.b) zu thermischen Neutronen (Rezepturposition III.a). Diese Grundbausteine wurden als sechs Meter hoher Turm mit 5,4 Tonnen Uranmetall und 45 Tonnen Uranoxid für den Brennstoff sowie 360 Tonnen Graphit für den Moderator [Bildquelle: Chicago Pile 1]. Als Steuerstäbe zur Neutronenabsorption dienten herausziehbare Cadmium-Stangen (Rezepturposition II.b). Das Herausziehen der Cadmium-Stangen beschleunigte die Kettenreaktion und das Einfahren bremste die Reaktion ab. Eine Neutronenquelle wurde nicht verwendet (Rezepturposition II.a), da sich Uran auch spontan spalten und damit Neutronen freisetzen kann, jedoch nicht zeitlich determiniert und steuerbar.
Diese Konstruktion mitten in der Stadt war abenteuerlich. Zu verzeihen ist dies nur durch den Umstand, dass damals die Gefahren noch unzureichend bekannt waren. Für welches Sicherheitskonzept entschieden sich die Wissenschaftler? Hier kommt der Mann mit der Axt ins Spiel. Über dem Pile hing an einem an der Decke befestigten, starken Seil ein Regelelement aus Cadmium. Daneben stand ein Mann mit einer Axt. Bei einer zu stark ansteigenden Leistung der Kettenreaktion sollte der Mann mit der Axt das Seil durchschlagen. Das Cadmium-Regelelement wäre heruntergefallen, um die Reaktion zu stoppen. Zusätzlich standen drei Mitarbeiter bereit, um im Notfall den Chicago Pile mit einer Cadmium-Salzlösung zu fluten. Das erste Konzept der Schnellabschaltung war geboren. Seither heißt die Reaktorschnellabschaltung Scram. Dieser englische Begriff steht für „abhauen“ oder „Leine ziehen“.
Da dieser Versuchsaufbau nicht das Ziel hatte, Energie in relevanter Größenordnung zu gewinnen und zu nutzen, wurden Medien zur Wärmeaufnahme, zum Wärmetransport und zur Kühlung nicht benötigt (Rezepturposition IV.a bis IV.c). Ebenso erübrigte sich damit das Problem einer möglichen Kernschmelze durch zu hohe Temperaturen und das notwendige Abklingen eines heißen und hoch reaktiven Brennstoffes (Rezepturposition V.a und V.b).
Über die Behandlung des Abfalles aus diesem Experiment ist nichts bekannt (Rezepturposition V.c).
Am 2. Dezember 1942 konnte das Experiment erfolgreich durchgeführt werden. Es demonstrierte die Möglichkeit einer gesteuerten Kettenreaktion mit einer Leistung von 0,5 Watt. Der Mann mit der Axt Georg Weil sowie die anwesenden Wissenschaftler unter Leistung von Enrico Fermi riskierten dafür ihr Leben.
Im nächsten Kapitel beschäftigen wir uns mit den Reaktorentwicklungen der ersten Generation, die für die Energiegewinnung geeignete Konstruktionen und Variationen der Reaktorrezeptur aufzeigten.
Quellen
[Chicago Pile 1] Bild: Chicago Pile 1 — Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung; Rechte bei Argonne National Laboratory; This work is licensed under Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 2.0 Generic License; http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/
“Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung” — Leimen / Heidelberg — 20. Dezember 2022