Leichtwasserreaktoren der Generation II
Erfolgreich und gleichzeitig risikoreich
Leichtwasserreaktoren der Generation II mit Siedewasser oder Wasser unter Druck setzten sich in Kernkraftwerken des 20. Jahrhunderts durch. Graphit-moderierte Reaktoren wie in Tschernobyl blieben die Ausnahme. Aber auch Leichtwasserreaktoren beinhalten grundlegende Risiken. Sie resultieren aus militärischen Interessen an Reaktorfunktionen. Die vom Erfinder des Druckwasserreaktors Alvin Weinberg intensiv geäußerten Bedenken bezüglich dessen Sicherheit wurden von Politik und Industrie ignoriert. Dies trifft auch für den schnellen Brüter zu, der aber zugleich auf Basis neuer Konzepte für Reaktoren der Generation IV eine Brücke in die Zukunft der Kernenergie bilden kann.
„Man sollte immer etwas Leichtsinn haben, wenn man etwas Großes vollbringen will.“ Oscar Wilde
Aber Oscar Wilde wusste noch nichts von der Kernspaltung. Der Autor
Inhaltsverzeichnis
- Die Energie der Atomkerne
- Energiepotenziale der Kernspaltung
- Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung oder „Der Mann mit der Axt”
- Technologiesuche zur Energiegewinnung mit Kernspaltung in der Generation I
- Leichtwasserreaktoren der Generation II
- Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima
- Neue Sicherheitskonzepte und die Generation III
- Kernkraftwerke neu gedacht und die Generation IV
- Die Energie der Sonne durch Kernfusion und aufkommende Technologien
Leichtsinn bei der Reaktorentwicklung
Als Erfinder des Druckwasserreaktors wurde Alvin Weinberg nie müde, auf die Risiken dieser Reaktoren zu verweisen. Um Alternativen anzubieten, forschte er mit seinem Team schon frühzeitig an Flüssigsalzreaktoren. Aber er konnte sich kein Gehör verschaffen und verlor schließlich als Mahner seinen Job.
Das Interesse der Geldgeber in den USA richtete sich auf Reaktortypen, die einerseits Plutonium für Kernwaffen erzeugen konnten und andererseits in U‑Booten einsetzbar waren. Die japanische und europäische Reaktorforschung war von Forschungsansätzen in den USA abhängig. Chinesische Entwicklungen zu Flüssigsalzreaktoren stießen auf erhebliche Materialprobleme. Die Tragik bestand darin, dass dieses Problem von Forschergruppen in den USA längst gelöst war. Aber die Ergebnisse wurden durch die Bevorzugung des Druckwasserreaktors nicht verfolgt. Westliche und chinesische Forscher standen zu dieser Zeit leider nicht im Austausch.
Somit verblieben nur drei Entwicklungslinien rund um den Leichtwasserreaktor. Dies betrifft den Siedewasserreaktor, den Druckwasserreaktor sowie den Schnellen Brüter. Der Erfolg war dem Druckwasserreaktor beschieden. Alvin Weinberg versuchte die Entscheider davon zu überzeugen, dass damit Katastrophen in den nächsten Jahrzehnten unvermeidbar sind. Aber seine Warnungen verhallten. Es kam, wie es kommen musste.
Der erste Zwischenfall ereignete sich im Jahr 1979 in Three Mile Island in den USA in der Nähe von Harrisburg. Der Schaden war noch auf das Reaktorgebäude begrenzt. Dann folgte 1986 die Katastrophe in Tschernobyl, in der ehemaligen Sowjetunion auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Jetzt war ganz Europa von den Auswirkungen betroffen, da das Dach des Reaktorgebäudes bei der Explosion weggesprengt wurde. Schließlich entzogen sich 2011 in Fukushima sechs Reaktoren nach einem starken Erdbeben und einem Tsunami der Kontrolle. Das Versagen der Kühlung verursachte in vier von sechs Reaktoren die Kernschmelze und damit Reaktorexplosionen.
Wir werden diese Ereignisse vertiefen. Da aber insbesondere Siedewasser- und Druckwasserreaktoren von den bisherigen Katastrophen in Kernkraftwerken betroffen waren, betrachten wir diese Typen etwas genauer.
Reaktoren der Generation II
Die Suche nach den optimalen Zutaten
Zu Beginn der Reaktorentwicklung war die Eigenschaft von Wasser zur Abbremsung schneller Neutronen noch nicht bekannt. Deshalb verfolgten erste Reaktorkonzepte den Einsatz von Graphit als Moderator und erst später die Nutzung von Wasser. Diese führte zu verschiedenen Reaktorrezepten mit folgender Zutatenliste:
- Brennstoffe: fester Brennstoff mit angereichertem Uran-235; aber auch natürliche Uran-238/235-Gemische
- Neutronenquelle zur Initiierung der Kettenreaktion: Neutronenstrahler wie zum Beispiel Americium-241
- Neutronenabsorber zum Einfangen von Neutronen zwecks Regulierung oder Unterbindung der Kettenreaktion: Borsäure als Zusatz im Wasser sowie Borcarbid oder Cadmium in Steuerstäben
- Moderatoren zur Verringerung der Neutronengeschwindigkeit von schnellen zu thermischen Neutronen: Graphit oder Wasser
- Wärmetransport und Kühlung: Kreislauf mit Wasser oder Kohlendioxid
- Sicherheitskonzepte und Abfallbehandlung: Notstromaggregate zur Aufrechterhaltung der Kühlkreisläufe sowie Abklingbecken für ausgebrannte Brennstäbe und Zwischenlager
Bezüglich des Brennstoffes gab es ein Problem. In der Natur kommt Uran vorrangig als Uran-238 vor. Zur Spaltung ist das Uran-235-Isotop besser geeignet, da es eine höhere Wahrscheinlichkeit zum Einfang von thermischen, also langsamen Neutronen bietet. Es werden somit weniger thermische Neutronen benötigt, um mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kern eines Uran-Atoms zu spalten. Bei der Nutzung von Uran-238 sinkt die Wahrscheinlichkeit zum Einfang eines Neutrons.
Wasser dient als Moderator und stellt die thermischen Neutronen bereit. Wasser ist aber nicht gleich Wasser. Die chemische Formel lautet H2O. Zwei Wasserstoffatome verbinden sich mit einem Sauerstoffatom zu einem Wassermolekül. Das in der Natur vorkommende Wasser ist vorrangig leichtes Wasser. Es besteht aus Wasserstoffatomen mit nur einem Proton im Atomkern. Schweres Wasser wiederum besteht aus Wasserstoffatomen mit einem Proton und einem Neutron im Kern. Diese Wasserstoffatome sind unter dem Begriff Deuterium bekannt. Der Hauptvorteil schweren Wassers besteht darin, dass es eine höhere Wahrscheinlichkeit zur Erzeugung thermischer Neutronen besitzt als normales Wasser. Damit kann der Nachteil von Uran-238, die thermischen Neutronen für die Kernspaltung schlechter zu nutzen durch die höhere Wahrscheinlichkeit des schweren Wassers, thermische Neutronen bereitzustellen, ausgeglichen werden.
Insbesondere die Anstrengungen Deutschlands im zweiten Weltkrieg zur Herstellung der Atombombe scheiterten daran, dass für den Einsatz von Uran-238 nicht das notwendige schwere Wasser in ausreichender Menge gewonnen werden konnte. Durch Fortschritte bei der Entwicklung von Zentrifugen zur Erhöhung des Anteils von Uran-235 im Brennstoff konnte aber auf schweres Wasser zugunsten der Leichtwasserreaktoren verzichtet werden.
Somit funktionierten erste Reaktortypen wie in Tschernobyl mit Uran-235 und Graphit als Moderator sowie mit Wasser in gesonderten Röhren zur Aufnahme der Wärmeenergie und zur Kühlung. Eine andere Entwicklungslinie zur Generation II verfolgte den Weg der Schwerwasserreaktoren mit weniger Aufwand zur Anreicherung von Uran-235. Letztendlich setzten sich aber die Leichtwasserreaktoren wie in Fukushima mit angereichertem Uran-235 durch.
Graphit-moderierte Reaktoren
Wasser-moderierte Reaktoren schließen das Brandrisiko von Graphit-moderierten Reaktoren aus. Somit gehören Reaktoren mit Graphit heute zu den Exoten. Sie wurden hauptsächlich in den 1950-er und 1960-er Jahren entwickelt, aber ihre Zahl nahm seitdem stark ab.
Der bekannteste Vertreter dieser Klasse ist der in Tschernobyl eingesetzte RBMK-Reaktor. In Russland betreiben nur noch die Kernkraftwerke Leningrad und Kursk diesen Typ. Alle anderen RBMK-Reaktoren wurden entweder stillgelegt oder modernisiert. Auch die weiteren RMBK-Reaktoren in Tschernobyl in der heutigen Ukraine wurden in den Jahren 1991 bis 2000 stillgelegt sowie der Weiterbau neuer Kraftwerksblöcke eingestellt. Zusätzlich gibt es einige Reaktoren anderer Bauart, die Graphit als Moderator verwenden, insbesondere in Großbritannien. Dies betrifft den Magnox-Reaktor, der Graphit als Moderator und Kohlendioxid als Kühlmittel verwendet.
Die Bauweise des Reaktors vom Typ RBMK-1000, der aufgrund der Katastrophe im Jahr 1986 traurige Berühmtheit erlangte, wird anhand nachfolgender Darstellung erläutert.
Die Uran-Brennstäbe befinden sich in Druckröhren aus Zirkon, die wiederum von Graphit-Blöcken als Moderator umgeben sind. Die Graphit-Blöcke enthalten Bohrungen für die borhaltigen Steuerstäbe zur Neutronenabsorption. Der Graphit-Moderator wird bei einer Temperatur von ungefähr 500 – 700 Grad Celsius eingesetzt. Um eine Entzündung des Graphits zu vermeiden, befindet sich dieser in einem gasdichten Behälter mit einer Schutzatmosphäre aus Helium und Stickstoff (Quelle: LEIFIphysik.de).
Durch die Druckröhren zirkuliert Leichtwasser, das außerhalb der Röhren in einem Kreislauf bei normalem Luftdruck fließt. Zirkulationspumpen erhalten den Wasserfluss aufrecht. Bei diesem Druck siedet Wasser schon bei 100 Grad Celsius. Damit gehört der RBMK-1000 zur Klasse der Siedewasserreaktoren. In Dampftrommeln werden das verbleibende Wasser und der Dampf getrennt. Der Dampf treibt die Turbinen an, die wiederum die Generatoren zur Stromerzeugung in Bewegung setzen.
Auf die Risiken dieses Reaktortyps wird später im Zusammenhang mit der Katastrophe von Tschernobyl eingegangen.
Wassermoderierte Siedewasser- und Druckwasserreaktoren
Leichtwasserreaktoren, in denen Wasser eine Mehrfachfunktion übernimmt, setzten sich durch. Sie verdrängten das im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährliche Graphit aus den Kernreaktoren. Letztendlich verblieb nur noch die Entscheidung zwischen Leichtwasserreaktoren mit bei Normaldruck siedendem Wasser sowie einem Reaktordruckbehälter, bei dem Wasser bis zu 300 Grad Celsius erhitzt werden kann, ohne zu sieden.
Die Rezeptzutaten der Energiegewinnung in Leichtwasserreaktoren mit Siedewasser- und Druckwasserreaktoren sind gleich. Sie lauten:
- Brennstoff: angereichertes Uran-235
- Neutronenquelle: beliebiger Neutronenstrahler
- Neutronenabsorber: Borsäure als Zusatz im Wasser sowie Borcarbid oder Cadmium in Steuerstäben
- Moderatoren: Leichtwasser
- Wärmetransport und Kühlung: Wasserkreislauf
- Sicherheitskonzepte und Abfallbehandlung: Notstromaggregate zur Aufrechterhaltung der Kühlkreisläufe sowie Abklingbecken für ausgebrannte Brennstäbe
Der Unterschied besteht vorrangig im Sicherheitskonzept. Beim Siedewasserreaktor fließt Wasser im Kreislauf unter Wärmeaufnahme im Reaktor zum Dampferzeuger, weiter zum Antrieb der Turbinen und nach Abkühlung zurück zum Reaktor. Damit besteht eine direkte Verbindung zwischen den Sicherheitsbereichen im Reaktorgebäude zu technischen Einrichtungen zur Stromerzeugung mit Turbinen und Generatoren entsprechend nachfolgender Abbildung.
Von Vorteil ist die geringere Komplexität des Siedewasserreaktors (SWR) gegenüber dem Druckwasserreaktor (DWR). Der SWR benötigt somit weniger Wartung bei einem einfacheren Betrieb. Weiterhin kann dieser Reaktortyp den Brennstoff effizienter nutzen als der DWR, um die gleiche Menge Energie zu erzeugen. Sowohl der Bau als auch der Betrieb sind kostengünstiger.
Zusätzlich zum höheren Risiko radioaktiver Verseuchung der technischen Bereiche mit Turbinen und Generatoren außerhalb des Reaktorgebäudes besitzt der SWR gegenüber dem DWR weitere Nachteile. Insbesondere verwendet der Siedewasserreaktor unter Normaldruck bei 100 Grad Celsius kochendes Wasser als Kühlmittel und Moderator. Dies führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für Dampfexplosionen und Korrosion. Weiterhin stellen diese Reaktoren aufgrund der geringeren Drücke weniger Leistung als DWRs bereit. Außerdem verursacht die Dampfblasenbildung von kochendem Wasser mögliche instabile Bedingungen im Reaktorkern.
Druckwasserreaktor
Ein Druckwasserreaktor bietet zwei entscheidende Vorteile. Das Wasser als Moderator und Wärmetransportmittel wird einem Druck von ungefähr 150 bis 170 Atmosphären ausgesetzt. So siedet es bis zu einer Betriebstemperatur von 280 bis 300 Grad Celsius nicht. Im Normalbetrieb bilden sich damit keine Blasen. Zusätzlich trennt ein Wärmetauscher und Dampferzeuger den Primärkühlkreislauf des Reaktors vom Sekundärkühlkreislauf im Turbinen- und Generatorgebäude.
Der Druckwasserreaktor besitzt somit eine höhere Betriebssicherheit als der SWR. Gleichzeitig erreicht der DWR aufgrund des höheren Druckes und der höheren Temperaturen im Reaktorkern mehr Leistung.
Druckwasserreaktoren sind aber technisch komplexer, was zu höheren Wartungs- und Betriebskosten führt. Auch die Baukosten sind höher. Sie erreichen zwar mehr Leistung, nutzen aber den Brennstoff weniger effizient als SWRs.
Schneller Brüter
Zum Schluss gehen wir noch kurz auf den Reaktortyp unter der erklärungsbedürftigen Bezeichnung „Schneller Brüter“ ein. Er basiert auf der Nutzung schneller Neutronen und benötigt somit keinen Moderator. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts arbeiteten Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, Indien, Japan und Deutschland an der Entwicklung schneller Brutreaktoren.
Die Technologie des Schnellen Brüters basiert einerseits auf Prozessen zur Umwandlung von Uran-238 oder von Thorium-232 in spaltbares Material, also Uran 235 oder Plutonium-239. Der Reaktor erbrütet somit seinen Brennstoff selbst. Anderseits nutzt er physikalische Möglichkeiten, die für die Kettenreaktion notwendige Wahrscheinlichkeit zur Kernspaltung auch ohne Abbremsung schneller Neutronen zu erreichen. Die Fähigkeit zur Nutzung schneller Neutronen und zum Brüten von Brennstoff gaben dem Reaktor seinen Namen. Der Reaktor liefert sowohl elektrische Energie als auch den dafür benötigten Rohstoff. Natürlich bekundete auch das Militär aufgrund der Fähigkeit, Plutonium für Atombomben zu produzieren, hohes Interesse an diesem Reaktorkonzept.
Obwohl der Schnelle Brüter eine höhere Effizienz bei der Energieerzeugung erreicht als herkömmliche Atomreaktoren, ist er deutlich komplexer und teurer in der Herstellung sowie risikoreicher im Betrieb. Dies führte zu politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsbezogenen Bedenken gegenüber schnellen Brütern. Projekte zur Entwicklung und Implementierung dieser Technologie endeten somit in der Regel erfolglos.
Lediglich noch Russland, China, Indien und Japan unternehmen weitere Anstrengungen bezüglich dieser Reaktoren. Russland nahm den BN-800 im Kernkraftwerk Beloyarsk in Betrieb und arbeitet derzeit an der Entwicklung des BN-1200. China entwickelte den CEFR, einen experimentellen Schnellen Brüter, und arbeitet am Natrium-gekühlten Reaktor CFR-600 der Generation IV. Auch Indien unternimmt mit dem SNF‑2 Anstrengungen zum Schnellen Brüter, der aber mit Thorium arbeiten soll, um spaltbares Material zu produzieren. Auf die Klasse der Thorium-Reaktoren gehen wir im Kapitel zu Reaktoren der Generation IV ein. Ebenso plant Japan nach der Abschaltung der Monju-Prototypen die Entwicklung an schnellen Brütern wieder aufzunehmen.
Quellen
[LEIFIphysik.de] Schematischer Aufbau des Reaktors RBMK-1000 in Tschernobyl. Rechte: CCO by LEIFIphysik.de. abgerufen in: LEIFIphysik, URL: http://www.leifiphysik.de.
“Leichtwasserreaktoren der Generation II” — Leimen / Heidelberg — 07. März 2023