Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima
Alvin Weinberg sagte es voraus
Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima: Die Kette dieser Ereignisse bestätigte die Bedenken von Alvin Weinberg, dem Erfinder des Druckwasserreaktors. Die Katastrophen betrafen alle bis dahin genutzten Reaktortypen, den Druckwasserreaktor in Three Mile Island bei Harrisburg, den graphitmoderierten Reaktor in Tschernobyl und die Siedewasserreaktoren in Fukushima. Das Schicksal der Energie durch Kernspaltung schien besiegelt. Doch im Licht weiterer technischer Entwicklungen und neuer Reaktorkonzepte sowie in Bezug auf den notwendigen Umbau des Energiesystems aufgrund des Klimawandels kann diese Form der Energiegewinnung wieder eine Zukunft besitzen.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.” Sokrates
Inhaltsverzeichnis
- Die Energie der Atomkerne
- Energiepotenziale der Kernspaltung
- Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung oder „Der Mann mit der Axt”
- Technologiesuche zur Energiegewinnung mit Kernspaltung in der Generation I
- Leichtwasserreaktoren der Generation II
- Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima
- Neue Sicherheitskonzepte und die Generation III
- Kernkraftwerke neu gedacht und die Generation IV
- Die Energie der Sonne durch Kernfusion und aufkommende Technologien
Das Ende der Illusion zur Sicherheit der Reaktoren der Generation II
Risikoeinschätzungen im Zeitenwandel
Die Bedenken des Kernphysikers Alvin Weinberg fanden also keinen Widerhall. Als Erfinder des Grundkonzepts der Druckwasserreaktoren wurde er in den Folgejahren nicht müde, die in diese Reaktorklasse eingebauten Sicherheitsrisiken zu betonen. Aber das Konzept setzte sich weltweit durch.
In Vorlesungen zur Reaktortechnik für Studenten der Kernphysik und Kernenergie trafen Professoren Aussagen zur Wahrscheinlichkeit, dass ein Super-GAU eintritt. Diese Bezeichnung benutzen Fachleute für den größten anzunehmenden Unfall. Ein GAU kann beispielsweise auch in einem Chemiewerk mit Freisetzung von giftigen Stoffen vorkommen. Die zusätzliche Steigerung des größten anzunehmenden Unfalls mit der Vorsilbe “Super” wird für ein Ereignis im Kernkraftwerk angewendet. Die Folgen bestehen hier in einer weiträumigen radioaktiven Verseuchung, die größere Gebiete auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte unbewohnbar machen kann.
Vor ersten realen Katastrophen gaben Wissenschaftler an, dass ein Super-GAU in einem speziellen Kraftwerk pro 200.000 Jahre zu erwarten ist. Tief eingeprägt hat sich in meiner Erinnerung die Abschätzung eines Dozenten in der Reaktorphysik-Vorlesung mit der Vorhersage einer derartigen Katastrophe pro einer Million Betriebsjahre eines Reaktors.
Nach Unfällen von Harrisburg bis Fukushima reduzierten die Fachleute diesen Wert. Sie erwarteten nun ein derartiges Unglück mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 10.000 Reaktorjahren. Das heißt, bei den sechs Reaktoren von Fukushima sollte maximal ein derartiges Unglück in rund 2.000 Jahren eintreten.
Neue Prognosen gehen inzwischen von wenigen tausend Reaktorjahren für einen derartigen Unfall aus. Dies bedeutet für die über 100 Leichtwasserreaktoren der Generation II in Europa die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAUs pro 20 bis 40 Jahre. Somit wäre nach Tschernobyl wieder ein Ereignis fällig. Auch die Praxis übertraf die früheren Einschätzungen deutlich. Widmen wir uns nun der Chronologie der Katastrophen.
Katastrophe Teil 1 – Harrisburg (Three Mile Island)
Zuerst traf es den Druckwasserreaktor
Die Unglücksserie startete im Kernkraftwerk Three Mile Island in der Nähe von Harrisburg in Pennsylvania, USA. Der Störfall ereignete sich am 28. März 1979 und war der schwerste Unfall in der Geschichte der amerikanischen Kernenergienutzung. Er betraf im Block 2 den weltweit am meisten verbreiteten Reaktortyp, einen Druckwasserreaktor mit einer Leistung von 575 Megawatt.
Die Störung der Wasserpumpe, die Kühlwasser in den Reaktor leitet, löste eine Kette von Ereignissen aus. Dies führte dazu, dass die Kühlwassermenge im Reaktor sank und die Kerntemperatur stieg. Zur Stabilisierung öffneten automatisch Sicherheitsventile, um den Reaktordruck zu senken. Leider funktionierten die Ventile nicht wie erwartet.
Der nächste Schritt war das automatische Abschalten des Reaktors. Dies führte jedoch dazu, dass das Kühlwasser schneller abkühlte als die Kerntemperatur im Reaktor selbst. Dadurch entstand ein Unterdruck im Reaktor, der das Kühlwasser aus dem Reaktor in den primären Kühlkreislauf saugte. Ein weiterer Rückgang des Kühlwassers im Reaktor verbunden mit dem weiteren Anstieg der Kerntemperatur folgte.
Als nächstes begann Wasser aus dem primären Kühlkreislauf in den sekundären Dampfkreislauf zu sickern, was zu einer Überhitzung des Dampfgenerators und dessen Abschaltung führte. Damit konnte keine Wärme mehr abgeführt werden, was die weitere Überhitzung des Reaktors bewirkte.
Ein Unglück veränderte die öffentliche Meinung
Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Der ständig steigende Druck im Reaktor führte zum Bruch des Reaktordruckbehälters. Dadurch entwich radioaktives Material aus dem Reaktor in die Umgebung. Zum Glück gab es keine Todesfälle oder schwere Verletzungen. Aber größere Mengen radioaktiver Stoffe wurden in den Gebäuden und auf dem Gelände des Kraftwerkes freigesetzt. Glück im Unglück könnte man sagen. Der Reaktor brach zwar, aber explodierte nicht. Somit war die Freisetzung von Radioaktivität auf die nähere Umgebung begrenzt und man durfte noch vom GAU sprechen. Der Super-GAU blieb der nächsten Katastrophe in Tschernobyl vorbehalten.
Das Einsetzen von Notfallmaßnahmen durch die Nutzung von Reservepumpen und das Entleeren von Wasser aus dem primären Kühlkreislauf behoben die Probleme. Auch das Abschalten des Reaktors half, die Kerntemperatur zu senken und den Druck im Reaktor zu reduzieren. Es dauerte mehrere Tage bis zur vollständigen Beherrschung der Situation.
Die Folgen des Unfalls waren weitreichend und langfristig. Es gab erhebliche Beschädigungen am betroffenen Reaktor und eine große Menge radioaktiven Materials musste entfernt werden. Hohe Kosten entstanden für Reinigung und Entsorgung sowie für die Entschädigung der betroffenen Anwohner und Geschäftsinhaber. Dieser Unfall veränderte langfristig die öffentliche Meinung zur Kernenergie und führte zu verstärkten Regulierungen und Sicherheitsmaßnahmen in der Branche.
Katastrophe Teil 2 – Tschernobyl
Der Super-Gau tritt ein
Schließlich trat der erste Super-GAU ein. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor im Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl und zerstörte das Gebäudedach. Eine zusätzliche Betonhülle um den Reaktor gab es nicht. Das gesamte radioaktive Material des Reaktors wurde somit entweder durch die Explosion in die Umgebung verteilt oder lag im Reaktor als massiv strahlender Höllenschlund frei.
Am Unglückstag hatte im Block 4 Anatoli Stepanowitsch Djatlow Dienst. Er war bekannt für seine Erfahrung und sein technisches Wissen im Umgang mit den Reaktoren. Allerdings war er auch dafür bekannt, dass er sich oft über Vorschriften hinwegsetzte und Risiken einging, um die Produktion zu steigern und Zeit zu sparen.
Am Tag des Unfalls in Tschernobyl sollte Djatlow einen wichtigen Test zur Untersuchung des Reaktorbetriebs während eines Stromausfalls durchführen. Dies geschah aber ohne ausreichende Vorbereitung und ohne klare Anweisungen, was schließlich die Explosion des Reaktors verursachte. Seine Entscheidungen und sein Handeln verbunden mit staatlicher Geheimhaltung trugen maßgeblich zu einer der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Kernenergie bei.
Zur Bewertung der RBMK-Reaktoren in Tschernobyl steigen wir etwas tiefer in die physikalischen Grundlagen und die technischen Abläufe ein, die das Unglück auslösten.
Rezeptur und Bauart der Tschernobyl-Reaktoren
Die in Tschernobyl betriebenen RBMK-Reaktoren gehören zu einem ausschließlich in der ehemaligen Sowjetunion eingesetzten Reaktortyp, der in den 1970er und frühen 1980er Jahren gebaut wurde. Siebzehn derartige Anlagen entstanden in Russland, der Ukraine sowie in Belarus und Litauen. Inzwischen erfolgte die Stilllegung oder Modernisierung der meisten Reaktoren. Ein Einblick in die Funktionsweise dieser Reaktoren ist wichtig, um die Ursachen der Katastrophe zu verstehen. Zur Erinnerung kehren wir zum Kapitel „Leichtwasserreaktoren der Generation II“ zurück und fassen mit Hilfe der Abbildung zum RBMK-Reaktor zusammen.
Der Reaktor nutzt Uran-235-Pellets in Brennstäben. Diese Stäbe befinden sich in Druckröhren aus Zirkon, durch die Wasser zum Wärmetransport und zur Kühlung fließt. Als Moderator dienende Graphitblöcke umschließen diese Röhren. In weiteren Bohrungen können Steuerstäbe zur Leistungsregelung ein- und ausgefahren werden. Um eine Entzündung des Graphits zu vermeiden, befindet sich dieser in einem gasdichten Behälter mit einer Schutzatmosphäre aus Helium und Stickstoff.
Weitere Risiken der Reaktoren in Tschernobyl mussten hinzukommen, um die Katastrophe auszulösen. Einer der Hauptfaktoren war das Reaktordesign. RBMK-Reaktoren besitzen einen positiven Dampfblasenkoeffizienten. Dies bedeutet, dass bei einem Anstieg der Dampfblasenbildung im siedenden Wasser die Leistung des Reaktors zunimmt. Dieses Merkmal macht den Reaktor anfällig für instabile Zustände.
Schließlich führte auch ein Problem mit dem Sicherheitssystem des Reaktors zur Katastrophe. Die Reaktoren waren mit einem Notabschaltsystem ausgestattet, das jedoch unzureichend war und in einigen Fällen sogar den Betrieb des Reaktors verschlimmerte, statt ihn zu stoppen. Wir kommen noch darauf zurück.
Derartig vorbereitet widmen wir uns den Ereignissen vom 26. April 1986 im Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl.
Ein Sicherheitstest mit Folgen [Chernobyl, 2019]
Es begann mit einem Sicherheitstest. Als der Reaktor von Block 4 im Jahr 1983 in Betrieb genommen wurde, waren die Arbeiten nicht wirklich abgeschlossen. Die Abnahme vor Jahresende musste erfolgen, um den verabschiedeten Plan einzuhalten. Orden für die führenden Beteiligten winkten, aber ein Sicherheitstest stand noch aus. Er sollte nun am 26. April 1986 nachgeholt werden. Es ging um die Frage, wie der Reaktor bei Stromausfall noch zuverlässig gekühlt werden kann. Denn ohne Kühlung reichen auch nach einer Abschaltung die weiterhin spontan stattfindenden Kernspaltungen, um den Reaktor zu überhitzen. Somit ist die Kühlung auch bei Stromausfall zwingend notwendig. Doch die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen für den Notbetrieb des Kühlkreislaufes galt es noch zu testen.
Bei Stromausfall sollten Dieselgeneratoren anspringen, um die Pumpen im Kühlkreislauf weiter zu betreiben. Doch lieferten diese Notgeneratoren erst nach einer Minute genügend Strom. Bis dahin konnte es zu spät sein, um die Überhitzung zu verhindern. Die vorgeschlagene Lösung für dieses Problem bestand darin, dass Nachlaufen der Turbinen nach einem Stromausfall zu nutzen, um die Kühlpumpen solange zu betreiben, bis die Notstromaggregate einsetzten. Dieser Test schlug im ersten Versuch fehl. Ebenso scheiterten der zweite und der dritte Versuch.
Das Risiko menschlichen Versagens
Der vierte Versuch sollte am 26. April 1986 während einer Nachtschicht im regulären Reaktorbetrieb erfolgen. Warum ausgerechnet in einer Nachschicht? Der ursprüngliche Termin lag am 25. April in der Tagschicht. Doch dann erreichte die Besatzung ein Anruf des Netzbetreibers mit der Bitte, keine weitere Leistungsabsenkung durch das Kraftwerk aufgrund hoher Strombedarfe vorzunehmen. Doch die Leitung des Kraftwerkes wollte den Test nun unbedingt und verschob deshalb den vierten Versuch in die Nachtschicht. Der Direktor des Kraftwerkes übte auf den Chefingenieur der Schicht Anatoli Djatlow Druck aus. Auf teilweise unerfahrene Untergebene gab Djatlow diesen Druck weiter. So kam es zum tragischen Ablauf, den die Untersuchungskommission detailliert im folgenden Jahr vor Gericht vortrug. [Chernobyl, 2019]
Um Mitternacht fand ein Schichtwechsel statt. Ohne klare Anweisungen und ohne eindeutiges Handbuch wurde eine für diesen Versuch nicht geschulte Besatzung überraschend mit der Aufgabe konfrontiert, den Test durchzuführen. Hinzu kam die mangelhafte Führungskompetenz des Chefingenieurs, der keine Einwände seiner Mitarbeiter gelten ließ. Die Handlungen zur Absenkung der Reaktorleistung delegierte Djatlow an Leonid Toptunow, ein 25-jähriger Ingenieur mit vier Monaten Berufserfahrung.
In der ersten Stunde des 26. April gab Djatlow die Anweisung, die Leistung des Reaktors zu senken, um danach den Stromausfall zu simulieren. Ziel war, nach der Abschaltung zu messen, ob die Turbinen im Auslauf noch eine Minute lang genügend Spannung zum Betrieb der Kühlpumpen lieferten, bis die Dieselgeneratoren einsatzbereit waren.
Der Regelkreis eines RBMK-Reaktors
Die Aufgabe der Besatzung bestand nun darin, den Reaktor unter diesen Bedingungen im Gleichgewicht zu halten, also mit verschiedenen Maßnahmen die Spaltrate des Reaktors – seine Reaktivität — zu steuern. Dazu schauen wir uns den Regelkreis des RBMK-Reaktors an.
- Uran in genügend kritischer Menge erhöht stetig die Reaktivität, da rund dreimal so viel Neutronen freigesetzt werden, wie zur Kernspaltung benötigt. Eine Kettenreaktion kommt in Gang.
- Das Bor in den Steuerstäben verringert durch den Einfang von Neutronen die Reaktivität.
- Das zur Kühlung eingesetzte Wasser verringert die Hitze im System.
- Das Wasser nimmt die mit der Kernspaltung freiwerdende Wärme auf und beginnt unter Normaldruck bei 100 Grad Celsius zu sieden und bildet Blasen. Im RBMK-Reaktor gibt es einen sogenannten positiven Dampfblasenkoeffizienten.
- Mit wachsender Anzahl von Dampfblasen nimmt die Reaktivität zu. Somit entsteht mehr Hitze, womit noch mehr Dampfblasen im Wasser gebildet werden.
- Diesem verstärkenden Prozess der Dampfblasen wirkt wiederum der negative Temperaturkoeffizient des RBMK-Reaktors entgegen. Die Reaktivität des Uran-Brennstoffes verringert sich, wenn er heißer wird.
Dieser scheinbar funktionierende Regelkreis besitzt aber ein Problem. Durch die Kernspaltung entsteht Xenon. Dieses Element verringert die Reaktivität. Es wird deshalb auch als Reaktorgift bezeichnet. Im vollen Leistungsbereich verbrennt Xenon, aber nicht im gedrosselten Betrieb. Aufgrund des geplanten Tests lief der Reaktor aber schon seit 10 Stunden mit halber Maximalleistung. Xenon sammelte sich an. Das Gleichgewicht im Regelkreislauf ging verloren. In diesem Zustand machte sich die Besatzung daran, die Reaktorleistung weiter zu drosseln.
Aufgrund der Xenon-Vergiftung ging die Leistung des Reaktors statt der vorgesehenen 700 Megawatt auf wenige Megawatt zurück. Laut Vorschrift war der Reaktor nun für 24 Stunden vollständig abzuschalten. Aber Djatlow wies die Besatzung im Gegensatz dazu an, die Leistung des Reaktors wieder hochzufahren, um den Test trotzdem durchzuführen.
Der unaufhaltsame Gang der Ereignisse
Die Ereignisse nahmen ihren Lauf. Es gab keinen Weg zurück. Der Reaktor lief nur noch bei einer Restleistung von 30 Megawatt, aber trotzdem entstand zusätzliches Xenon. Hinzu kam nun, dass der Reaktor nicht mehr heiß genug war, um ausreichend Wasser zu verdampfen. In diesem Zustand lässt sich die Leistung nur dann erhöhen, wenn sehr langsam über eine Zeitspanne von 24 Stunden vorgegangen wird. Doch Djatlow forderte eine sofortige Leistungserhöhung.
Somit zog die Besatzung die Steuerstäbe schnell zur Hälfte aus dem Kern. Doch durch die Xenon-Vergiftung änderte sich die Leistung nicht. Sich der Gefahr nicht bewusst, zogen die Ingenieure bis auf sechs Steuerstäbe alle 211 Stäbe vollständig heraus. Inzwischen war auch der Brennstoff erkaltet. Wir erinnern uns. Der Reaktor besitzt einen negativen Temperaturkoeffizienten. Bei steigender Temperatur sinkt die Reaktivität, aber mit fallender Temperatur steigt sie, was nun der Fall war.
In welchem Zustand befand sich der Reaktor in dieser Phase? Die Steuerstäbe waren draußen. Trotzdem lieferte der Reaktor nur eine Leistung von rund 200 Megawatt. Das Xenon ließ keine weitere Leistungserhöhung zu. Hinzu kam, dass das Notkühlsystem aufgrund des geplanten Tests nicht funktionierte. Im Gleichgewicht wurde der Reaktor jetzt nur noch durch das Xenon sowie das Wasser gehalten. In dieser Situation befahl Djatlow die Ausführung des Tests, obwohl dafür 700 Megawatt vorgeschrieben waren.
Die Pumpen wurden somit ausgestellt und beförderten kein Wasser mehr durch den Reaktor. Die vorletzte Bremse war gelöst. Da nun kein Kühlwasser mehr durch den Reaktor floss, erhöhte sich die Reaktorleistung. Das Mittel zum Abtransport der dabei entstehenden Wärme, das Wasser, fehlte. Es verblieb nur das Restwasser im Reaktor.
Der AZ-5-Knopf
Mit der gestiegenen Leistung verdampfte das restliche im Reaktor verbliebene Wasser. Es entstand eine riesige Dampfblase. Die abgeschalteten Pumpen beförderten kein neues Wasser in den Reaktor. Aufgrund des positiven Dampfblasen-Koeffizienten der RBMK-Reaktoren erhöhte der entstandene Dampf die Reaktivität. Damit stieg die Hitze im Reaktor, was wiederum mehr Dampf und in der Folge eine noch höhere Reaktivität bewirkte. Durch die jetzt wieder gestiegene Leistung verbrannte das angehäufte Xenon. Die letzte Bremse verlor somit seine Wirkung und der Reaktor fuhr ungebremst in die Katastrophe. Nichts konnte die steigende Leistung mehr aufhalten, da alle Mittel zur Senkung der Reaktivität fehlten.
Entsetzt stellte die Besatzung den plötzlichen Leistungsanstieg des Reaktors fest. Es blieb ihnen nur noch das Drücken des Knopfes zur Notabschaltung. Sein Name lautet AZ‑5. Mit der Bedienung dieses Schalters fahren sofort alle Steuerstäbe in den Reaktor ein, um die Kettenreaktion des Urans zu beenden. Aber diese Schnellabschaltung hatte in Tschernobyl einen entscheidenden Mangel. Die Steuerstäbe sollen mit dem enthaltenen Bor die Reaktivität verringern. Aber beim Einfahren der Steuerstäbe erhöht sich kurz die Reaktivität, da die Spitzen der Steuerstäbe aus Graphit bestehen. Graphit dient in RBMK-Reaktoren als Moderator, um Neutronen für die Kernspaltung zu verlangsamen. Das zusätzliche Graphit stellte also zusätzliche Neutronen für die Kernspaltung bereit.
„Warum“ fragt der Richter den wissenschaftlichen Leiter der Untersuchungskommission Professor Legassow bezüglich des Zwecks von Graphit an den Steuerstäben. Er antwortet: „Warum? Aus demselben Grund, warum unsere Reaktoren nicht mit Sicherheitsbehältern umhüllt sind wie die im Westen und aus demselben Grund, warum unser Kernbrennstoff nicht sauber angereichert ist. Aus demselben Grund, weshalb wir weltweit die einzigen Hersteller von wassergekühlten, graphitmoderierten Reaktoren mit positiven Dampfblasen-Koeffizienten sind …. Es ist billiger.“ [Chernobyl, 2019]
Das Finale und die Folgen
Mit Graphit an der Spitze der Steuerstäbe stieg die Reaktorleistung schlagartig an. Das gesamte verbliebene Wasser verdampfte unmittelbar, dehnte sich aus und verformte die Einlasskanäle der Steuerstäbe. Die Stäbe blieben stecken. Das Graphit an den Spitzen verstärkte die Reaktivität zusätzlich. Aber das Bor der Steuerstäbe verblieb außerhalb des Reaktorkerns und konnte die Reaktivität nicht senken. Der Reaktor 4 von Tschernobyl war nun eine Atombombe. Seine Maximalleistung betrug 3000 Megawatt. Der Leistungsmesser zeigte zum Schluss 33.000 Megawatt!
Mit dieser extrem zunehmenden nuklearen Kettenreaktion explodierte der Reaktorinhalt quasi als kleine Atombombe und sprengte den Reaktordeckel weg. Somit gelangte Sauerstoff in den Reaktor, in dem die Hitze aus Wasser Wasserstoff abspaltete. Der Sauerstoff reagierte mit Wasserstoff und dem überhitzten Graphit als Zündfunken in einer zweiten Explosion. Diese Explosion zerstörte das Dach des Reaktorgebäudes. Zurück blieb ein zerstörtes Gebäude sowie ein brennender, offener Reaktor.
Die Notabschaltung wirkte wie ein Zünder. Der Besatzung wurde dieser Mangel verheimlicht. Aber dies war nur das letzte Glied einer Serie von Fehlentscheidungen und von Machtausübung. Die Folgen der Katastrophe waren verheerend. Die Explosion und das Feuer verursachten eine radioaktive Wolke, die sich über ganz Europa ausbreitete. Sie hinterließ die Umgebung um das Kernkraftwerk für Jahrhunderte schwer verstrahlt. Die Stadt des Kraftwerkes Pripjat musste evakuiert werden.
In unmittelbarer Folge der Explosion starben zwei Mitarbeiter sofort. Weitere an Löscharbeiten und zur Schadensbegrenzung beteiligte Mitarbeiter, Feuerwehrleute und Soldaten starben an der Strahlenkrankheit in den folgenden Wochen. Schätzungen gehen von 30 bis 50 Todesfällen aus. Letztendlich ist es deren Einsatz zu verdanken, dass die Katastrophe nicht in eine nukleare Explosion ungekannten Ausmaßes mündete.
Die langfristigen Auswirkungen mit indirekten Folgen wie Krebs und andere Krankheiten kommen hinzu. Laut der offiziellen Schätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) starben bis 2005 insgesamt 4.000 Menschen an den Folgen. Andere Schätzungen liegen deutlich höher und gehen von bis zu 90.000 Todesfällen aus.
Katastrophe Teil 3 – Fukushima
Die Schwachstelle der Leichtwasserreaktoren
Mit einer gewissen Überheblichkeit kommentierten Experten des Westens das Unglück von Tschernobyl. Schuld seien die veraltete und kostensparende Bauweise der russischen RBMK-Reaktoren sowie menschliches Versagen. In diesem Ausmaß wäre ein Super-GAU in westlichen Ländern mit Leichtwasserreaktoren sehr unwahrscheinlich. Doch die Ereignisse in Fukushima belehrten uns bald eines Besseren.
Das am 22. März 2011 vor der Ostküste Japans stattfindende Erdbeben mit der Stärke 9,1 führte zu einer der schlimmsten nuklearen Katastrophen in der Geschichte der Kernenergie. Der vom Erdbeben verursachte Tsunami löste im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi eine Ereigniskette bis zum Super-GAU aus. Nach einem Druckwasserreaktor in Harrisburg und dem graphitmoderierten Reaktor von Tschernobyl traf es dieses Mal Siedewasserreaktoren. Das Kraftwerk war für eine Tsunami-Höhe von 6 Metern ausgelegt. Allerdings erreichten die anflutenden Wellen des viertstärksten jemals gemessenen Erdbebens eine Höhe von 14 Metern. Sie überfluteten somit das Kraftwerksgelände.
Das Erdbeben verursachte einen Ausfall der Stromversorgung, was zur Abschaltung der Reaktoren führte und die Notstromgeneratoren aktivierte. Die Aufgabe der Generatoren bestand darin, das Kühlsystem der Reaktoren aufrechtzuerhalten. Allerdings wurden die Generatoren durch den Tsunami überflutet, was nun den Ausfall der Reaktorkühlsysteme bewirkte. Aber auch im abgeschalteten Zustand des Reaktors laufen spontane Spaltungsprozesse des Uran-Brennstoffs weiter. Beispielsweise besitzt ein Reaktor mit einer Maximalleistung von einem Gigawatt immerhin noch eine Restleistung von 30 Megawatt. Dies erzeugt ausreichend Wärme, um die Temperatur im Reaktor ohne Kühlung stetig steigen zu lassen.
Der reguläre Kühlkreislauf mit zugehörigen Kühlmittelpumpen funktionierte also nicht mehr. Um die Überhitzung der Brennstäbe zu verhindern, pumpte die Belegschaft Seewasser in die Reaktoren. Zunächst wurde dazu versucht, die Pumpen der Feuerlöschsysteme des Kraftwerks zu nutzen. Als dies jedoch aufgrund der beschädigten Infrastruktur nicht funktionierte, kamen mobile Pumpen zum Einsatz. Die Arbeiter beförderten das Meerwasser in Tanks, von wo es dann in die Reaktoren geleitet wurde.
Auch Wasser kann Explosionen bewirken
Die Kühlung der Reaktoren mit Meerwasser war eine Verzweiflungstat, aber sie reichte nicht. Da der Kühlkreislauf nicht funktionierte, konnte zwar Wasser eingepumpt werden, aber die Ableitung des sich erwärmenden Wassers war nicht gewährleistet. Dadurch stieg die Temperatur in den Reaktoren weiter.
Somit erhöhte sich mit steigender Temperatur im Reaktorkern auch die Temperatur des eingeleiteten Wassers. Wasser lässt sich durch verschiedene Mechanismen in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten. Dies funktioniert sowohl durch Elektrolyse, also die Spaltung auf Basis einer elektrischen Spannung, als auch durch einen thermochemischen Prozess. Hohe Temperaturen können Wasser in seine atomaren Bestandteile zerlegen. In Abhängigkeit von der Wasserverunreinigung und vom Druck kann dieser Prozess bei Temperaturen über 1700 Grad Celsius beginnen. In Druckwasserreaktoren startet der Prozess der Wasserspaltung erst bei höheren Temperaturen. Das Kraftwerk in Fukushima nutzte aber Siedewasserreaktoren, deren Betrieb bei Normaldruck erfolgte, so dass eine Spaltung schon bei niedrigeren Temperaturen möglich ist.
Der austretende Wasserstoff wurde anfangs in den Abgasen der Reaktorgebäude gesammelt und in explosionsgeschützte Tanks geleitet. Später waren einige der Tanks jedoch überfüllt, wodurch sich Wasserstoff in den Reaktorgebäuden ansammelte. Wasserstoff reagiert mit dem Sauerstoff der Luft in einer Knallgasexplosion. Das Unglück des deutschen Luftschiffes Hindenburg im Jahr 1937 und seine Folgen sind bekannt. Es kam, wie es kommen musste.
Am 12. März 2011 explodierte das Gebäude des Reaktors 1. Es wird angenommen, dass sich Wasserstoff in den Gebäuden aufgrund einer Funkenbildung der Turbinen oder Generatoren entzündete. Dies führte zur Explosion des Gebäudes und zur Freisetzung von radioaktivem Material in die Umgebung.
Am 13. März explodierte Reaktor 1. Es folgte am 14. März die Explosion von Reaktor 3 und am 15. März von Reaktor 2. Ursache war jeweils eine Knallgasreaktion.
Schutzhüllen aus Beton – das Containment
Reaktoren sind heute im Gegensatz zu Tschernobyl durch Betonhüllen, das sogenannte Containment, von den übrigen Gebäuden abgeschirmt. Der Wasserstoff sammelte sich in anderen technischen Bereichen an. Die Explosionen fanden somit außerhalb der Reaktoren als auch außerhalb der Reaktorschutzhüllen statt. Warum trat nun so massiv radioaktives Material in die Außenwelt aus? Dafür gibt es mehrere Ursachen.
Die erste Ursache lernten wir schon kennen. In Fukushima wurden Siedewasserreaktoren eingesetzt. Gegenüber Druckwasserreaktoren besitzen sie nur einen Wasserkreislauf mit zufließendem Kühlwasser und nach der Erhitzung im Reaktor mit abströmendem Wasserdampf zum Antrieb der Turbinen. Zur Erinnerung können sie zum Kapitel „Leichtwasserreaktoren der Generation II“ zurückblättern. Siedewasserreaktoren besitzen eine direkte Verbindung zwischen dem Reaktorinneren und dem Turbinenraum über die zugehörige Rohrleitung.
Nach den Explosionen musste Meerwasser stetig zur weiteren Kühlung eingeleitet werden. Da die Kühlkreisläufe defekt waren, floss das im Reaktor kontaminierte Wasser in die anderen Gebäudebereiche und in das Abklingbecken. Mit ansteigenden Wassermengen wurde Wasser in Außentanks geleitet, gelangte aber auch in die Umwelt.
Die Explosionen beschädigten aber auch die Containment-Strukturen der Reaktoren 1, 2 und 3. Das Containment von Reaktor 1 nahm den geringsten Schaden. Die Containment-Strukturen der Reaktoren 2 und 3 waren stärker betroffen. Infolgedessen trat Radioaktivität aus und kontaminierte die Umgebung.
Die Reaktorbehälter innerhalb des Containments hielten den Explosionen weitgehend stand. Allerdings gab es eine Ausnahme. In Reaktor 2 wurde der Deckel des Druckbehälters teilweise abgesprengt. Teile davon fanden die Einsatzkräfte später in der Umgebung. Es ist jedoch unklar, ob dies durch eine Wasserstoffexplosion oder durch andere Ursachen, wie z.B. eine Überhitzung oder einen Druckanstieg im Reaktorbehälter, verursacht wurde. Diese Explosion beförderte radioaktives Material aus dem Reaktorinneren in die Außenwelt.
Radioaktive Verseuchung der Umgebung
Die japanische Regierung gab an, dass die Explosion von Reaktor 2 eine größere Menge an radioaktivem Material freisetzte. Dies betrifft Isotope wie Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90. Die Schilddrüse des Menschen sammelt gern Jod, womit mit der Aufnahme von radioaktivem Jod die Gefahr von Schilddrüsenkrebs besteht. Als Gegenmittel und zur Sättigung der Schilddrüse mit Jod wird deshalb bei entsprechenden Gefahren die Einnahme von Jodtabletten empfohlen. Cäsium und Strontium sammelt der Körper in Knochen. Insbesondere Cäsium besitzt ähnliche Eigenschaften wie Kalzium. Mit diesen beiden radioaktiven Isotopen droht Knochenkrebs.
Aber die Gefahr war mit der Kühlung der Reaktoren nach den Explosionen nicht gebannt. Das Verfahren war nicht ausreichend und es drohte in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 mit der weiter steigenden Temperatur im Reaktorkern das Schmelzen des Uran-Brennstoffes. Fachleute sprechen von der Kernschmelze, die bei 2500 bis 2800 Grad Celsius startet. Im schlimmsten Fall kann es bei der Kernschmelze zu einem überkritischen Zustand und damit zu einer atomaren Explosion kommen. Der Kernbrennstoff kann aber auch durch die Betonplatte unter dem Reaktor schmelzen und damit in das Grundwasser gelangen sowie über das Fließwasser ganze Regionen unbewohnbar machen.
Laut Betreiber konnte die Kernschmelze im Reaktor 2 verhindert werden. Doch im Reaktor 3 betraf die beginnende Kernschmelze 33 Prozent sowie im Reaktor 2 rund 55 Prozent des Brennstoffes. Nach einem längeren Kühlprozess konnte die Kernschmelze gestoppt werden.
Langfristige Folgen
Das Abkühlen des Brennstoffs nach einer Kernschmelze kann mehrere Jahre dauern. Heute ist der Brennstoff in den beschädigten Reaktoren weitgehend abgekühlt. Die Lage in Fukushima blieb jedoch lange ein ernstes Problem, da die Gefahr des Kontaktes zwischen Brennstoff und Grundwasser weiter bestand.
Der Abkühlprozess musste deshalb fortgesetzt werden. Der Betreiber Tepco nutzte in den Jahren nach dem Unfall mehrere Kühlmethoden, wie zum Beispiel die Einspritzung von Stickstoff in den Reaktor, um eine mögliche Explosion von Wasserstoffgas zu verhindern. Tepco hat auch damit begonnen, das geschmolzene Material aus den beschädigten Reaktoren zu holen. Die Entfernung und Entsorgung dieser Materialien ist eine langwierige und schwierige Aufgabe. Keine Roboterelektronik hält der harten Strahlung im Reaktorkern längere Zeit stand. Letztendlich dauern die Arbeiten an den havarierten Reaktoren weitere Jahrzehnte.
Außerdem besteht immer noch ein gewisses Risiko für den Austritt radioaktiver Materialien in die Umgebung, insbesondere bei Unfällen oder Naturkatastrophen.
Die Freisetzung von radioaktivem Material aus Reaktor 2 und den anderen Reaktoren von Fukushima hatte erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in der Region. Dies führte zu einer langfristigen radioaktiven Kontamination der Umgebung, zu notwendigen Evakuierungen und zur Einrichtung einer Sperrzone. Das am höchsten belastete und deshalb zur Sperrzone erklärte Gebiet umfasst rund 400 Quadratkilometer.
Mit der Ereigniskette Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima schien das Schicksal der Energie durch Kernspaltung besiegelt. Alvin Weinberg hatte genügend vor den Risiken der Leichtwasserreaktoren gewarnt. Doch im Licht weiterer technischer Entwicklungen und neuer Reaktorkonzepte sowie in Bezug auf den notwendigen Umbau des Energiesystems aufgrund des Klimawandels kann diese Form der Energiegewinnung wieder eine Zukunft besitzen. Wir widmen uns dazu den nächsten Kapiteln.
Quellen
[Chernobyl, 2019] Chernobyl. Regie: Johan Reck; Produzent: Sanne Wohlenberg; Produktionsfirma: Sister Pictures, The Mighty Mint. 2019, Folge 5.
“Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima” — Leimen / Heidelberg — 05. April 2023