Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima

Alvin Weinberg sagte es voraus

Harrisburg - Tschernobyl - Fukushima
Harrisburg - Tschernobyl - Fukushima; copyright by Adobe Stock No. 581232183

Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima

Alvin Weinberg sagte es voraus

Har­ris­burg — Tscher­no­byl — Fuku­shi­ma: Die Ket­te die­ser Ereig­nis­se bestä­tig­te die Beden­ken von Alvin Wein­berg, dem Erfin­der des Druck­was­ser­re­ak­tors. Die Kata­stro­phen betra­fen alle bis dahin genutz­ten Reak­tor­ty­pen, den Druck­was­ser­re­ak­tor in Three Mile Island bei Har­ris­burg, den gra­phit­mo­de­rier­ten Reak­tor in Tscher­no­byl und die Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren in Fuku­shi­ma. Das Schick­sal der Ener­gie durch Kern­spal­tung schien besie­gelt. Doch im Licht wei­te­rer tech­ni­scher Ent­wick­lun­gen und neu­er Reak­tor­kon­zep­te sowie in Bezug auf den not­wen­di­gen Umbau des Ener­gie­sys­tems auf­grund des Kli­ma­wan­dels kann die­se Form der Ener­gie­ge­win­nung wie­der eine Zukunft besitzen.

Ich weiß, dass ich nichts weiß.”  Sokrates

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Ener­gie der Atomkerne
  2. Ener­gie­po­ten­zia­le der Kernspaltung
  3. Rezep­tur der gesteu­er­ten Kern­spal­tung oder „Der Mann mit der Axt”
  4. Tech­no­lo­gie­su­che zur Ener­gie­ge­win­nung mit Kern­spal­tung in der Gene­ra­ti­on I
  5. Leicht­was­ser­re­ak­to­ren der Gene­ra­ti­on II
  6. Har­ris­burg — Tscher­no­byl — Fukushima
  7. Neue Sicher­heits­kon­zep­te und die Gene­ra­ti­on III
  8. Kern­kraft­wer­ke neu gedacht und die Gene­ra­ti­on IV
  9. Die Ener­gie der Son­ne durch Kern­fu­si­on und auf­kom­men­de Technologien

Das Ende der Illusion zur Sicherheit der Reaktoren der Generation II

Risikoeinschätzungen im Zeitenwandel

Die Beden­ken des Kern­phy­si­kers Alvin Wein­berg fan­den also kei­nen Wider­hall. Als Erfin­der des Grund­kon­zepts der Druck­was­ser­re­ak­to­ren wur­de er in den Fol­ge­jah­ren nicht müde, die in die­se Reak­tor­klas­se ein­ge­bau­ten Sicher­heits­ri­si­ken zu beto­nen. Aber das Kon­zept setz­te sich welt­weit durch. 

In Vor­le­sun­gen zur Reak­tor­tech­nik für Stu­den­ten der Kern­phy­sik und Kern­ener­gie tra­fen Pro­fes­so­ren Aus­sa­gen zur Wahr­schein­lich­keit, dass ein Super-GAU ein­tritt. Die­se Bezeich­nung benut­zen Fach­leu­te für den größ­ten anzu­neh­men­den Unfall. Ein GAU kann bei­spiels­wei­se auch in einem Che­mie­werk mit Frei­set­zung von gif­ti­gen Stof­fen vor­kom­men. Die zusätz­li­che Stei­ge­rung des größ­ten anzu­neh­men­den Unfalls mit der Vor­sil­be “Super” wird für ein Ereig­nis im Kern­kraft­werk ange­wen­det. Die Fol­gen bestehen hier in einer weit­räu­mi­gen radio­ak­ti­ven Ver­seu­chung, die grö­ße­re Gebie­te auf Jahr­zehn­te oder gar Jahr­hun­der­te unbe­wohn­bar machen kann. 

Vor ers­ten rea­len Kata­stro­phen gaben Wis­sen­schaft­ler an, dass ein Super-GAU in einem spe­zi­el­len Kraft­werk pro 200.000 Jah­re zu erwar­ten ist. Tief ein­ge­prägt hat sich in mei­ner Erin­ne­rung die Abschät­zung eines Dozen­ten in der Reak­tor­phy­sik-Vor­le­sung mit der Vor­her­sa­ge einer der­ar­ti­gen Kata­stro­phe pro einer Mil­li­on Betriebs­jah­re eines Reak­tors. 

Nach Unfäl­len von Har­ris­burg bis Fuku­shi­ma redu­zier­ten die Fach­leu­te die­sen Wert. Sie erwar­te­ten nun ein der­ar­ti­ges Unglück mit einer Wahr­schein­lich­keit von 1 zu 10.000 Reak­tor­jah­ren. Das heißt, bei den sechs Reak­to­ren von Fuku­shi­ma soll­te maxi­mal ein der­ar­ti­ges Unglück in rund 2.000 Jah­ren eintreten.

Neue Pro­gno­sen gehen inzwi­schen von weni­gen tau­send Reak­tor­jah­ren für einen der­ar­ti­gen Unfall aus. Dies bedeu­tet für die über 100 Leicht­was­ser­re­ak­to­ren der Gene­ra­ti­on II in Euro­pa die Wahr­schein­lich­keit eines Super-GAUs pro 20 bis 40 Jah­re. Somit wäre nach Tscher­no­byl wie­der ein Ereig­nis fäl­lig. Auch die Pra­xis über­traf die frü­he­ren Ein­schät­zun­gen deut­lich. Wid­men wir uns nun der Chro­no­lo­gie der Katastrophen.

 

Katastrophe Teil 1 – Harrisburg (Three Mile Island)

Zuerst traf es den Druckwasserreaktor

Die Unglücks­se­rie star­te­te im Kern­kraft­werk Three Mile Island in der Nähe von Har­ris­burg in Penn­syl­va­nia, USA. Der Stör­fall ereig­ne­te sich am 28. März 1979 und war der schwers­te Unfall in der Geschich­te der ame­ri­ka­ni­schen Kern­ener­gie­nut­zung. Er betraf im Block 2 den welt­weit am meis­ten ver­brei­te­ten Reak­tor­typ, einen Druck­was­ser­re­ak­tor mit einer Leis­tung von 575 Megawatt.

Die Stö­rung der Was­ser­pum­pe, die Kühl­was­ser in den Reak­tor lei­tet, lös­te eine Ket­te von Ereig­nis­sen aus. Dies führ­te dazu, dass die Kühl­was­ser­men­ge im Reak­tor sank und die Kern­tem­pe­ra­tur stieg. Zur Sta­bi­li­sie­rung öff­ne­ten auto­ma­tisch Sicher­heits­ven­ti­le, um den Reak­tor­druck zu sen­ken. Lei­der funk­tio­nier­ten die Ven­ti­le nicht wie erwartet.

Der nächs­te Schritt war das auto­ma­ti­sche Abschal­ten des Reak­tors. Dies führ­te jedoch dazu, dass das Kühl­was­ser schnel­ler abkühl­te als die Kern­tem­pe­ra­tur im Reak­tor selbst. Dadurch ent­stand ein Unter­druck im Reak­tor, der das Kühl­was­ser aus dem Reak­tor in den pri­mä­ren Kühl­kreis­lauf saug­te. Ein wei­te­rer Rück­gang des Kühl­was­sers im Reak­tor ver­bun­den mit dem wei­te­ren Anstieg der Kern­tem­pe­ra­tur folgte.

Als nächs­tes begann Was­ser aus dem pri­mä­ren Kühl­kreis­lauf in den sekun­dä­ren Dampf­kreis­lauf zu sickern, was zu einer Über­hit­zung des Dampf­ge­ne­ra­tors und des­sen Abschal­tung führ­te. Damit konn­te kei­ne Wär­me mehr abge­führt wer­den, was die wei­te­re Über­hit­zung des Reak­tors bewirkte.

Ein Unglück veränderte die öffentliche Meinung

Die Kata­stro­phe nahm ihren Lauf. Der stän­dig stei­gen­de Druck im Reak­tor führ­te zum Bruch des Reak­tor­druck­be­häl­ters. Dadurch ent­wich radio­ak­ti­ves Mate­ri­al aus dem Reak­tor in die Umge­bung. Zum Glück gab es kei­ne Todes­fäl­le oder schwe­re Ver­let­zun­gen. Aber grö­ße­re Men­gen radio­ak­ti­ver Stof­fe wur­den in den Gebäu­den und auf dem Gelän­de des Kraft­wer­kes frei­ge­setzt. Glück im Unglück könn­te man sagen. Der Reak­tor brach zwar, aber explo­dier­te nicht. Somit war die Frei­set­zung von Radio­ak­ti­vi­tät auf die nähe­re Umge­bung begrenzt und man durf­te noch vom GAU spre­chen. Der Super-GAU blieb der nächs­ten Kata­stro­phe in Tscher­no­byl vorbehalten.

Das Ein­set­zen von Not­fall­maß­nah­men durch die Nut­zung von Reser­ve­pum­pen und das Ent­lee­ren von Was­ser aus dem pri­mä­ren Kühl­kreis­lauf beho­ben die Pro­ble­me. Auch das Abschal­ten des Reak­tors half, die Kern­tem­pe­ra­tur zu sen­ken und den Druck im Reak­tor zu redu­zie­ren. Es dau­er­te meh­re­re Tage bis zur voll­stän­di­gen Beherr­schung der Situation.

Die Fol­gen des Unfalls waren weit­rei­chend und lang­fris­tig. Es gab erheb­li­che Beschä­di­gun­gen am betrof­fe­nen Reak­tor und eine gro­ße Men­ge radio­ak­ti­ven Mate­ri­als muss­te ent­fernt wer­den. Hohe Kos­ten ent­stan­den für Rei­ni­gung und Ent­sor­gung sowie für die Ent­schä­di­gung der betrof­fe­nen Anwoh­ner und Geschäfts­in­ha­ber. Die­ser Unfall ver­än­der­te lang­fris­tig die öffent­li­che Mei­nung zur Kern­ener­gie und führ­te zu ver­stärk­ten Regu­lie­run­gen und Sicher­heits­maß­nah­men in der Branche.

 

Katastrophe Teil 2 – Tschernobyl

Der Super-Gau tritt ein

Schließ­lich trat der ers­te Super-GAU ein. Am 26. April 1986 explo­dier­te der Reak­tor im Block 4 des Kern­kraft­wer­kes Tscher­no­byl und zer­stör­te das Gebäu­de­dach. Eine zusätz­li­che Beton­hül­le um den Reak­tor gab es nicht. Das gesam­te radio­ak­ti­ve Mate­ri­al des Reak­tors wur­de somit ent­we­der durch die Explo­si­on in die Umge­bung ver­teilt oder lag im Reak­tor als mas­siv strah­len­der Höl­len­schlund frei. 

Am Unglücks­tag hat­te im Block 4 Ana­to­li Ste­pano­witsch Djat­low Dienst. Er war bekannt für sei­ne Erfah­rung und sein tech­ni­sches Wis­sen im Umgang mit den Reak­to­ren. Aller­dings war er auch dafür bekannt, dass er sich oft über Vor­schrif­ten hin­weg­setz­te und Risi­ken ein­ging, um die Pro­duk­ti­on zu stei­gern und Zeit zu sparen.

Am Tag des Unfalls in Tscher­no­byl soll­te Djat­low einen wich­ti­gen Test zur Unter­su­chung des Reak­tor­be­triebs wäh­rend eines Strom­aus­falls durch­füh­ren. Dies geschah aber ohne aus­rei­chen­de Vor­be­rei­tung und ohne kla­re Anwei­sun­gen, was schließ­lich die Explo­si­on des Reak­tors ver­ur­sach­te. Sei­ne Ent­schei­dun­gen und sein Han­deln ver­bun­den mit staat­li­cher Geheim­hal­tung tru­gen maß­geb­lich zu einer der schlimms­ten Kata­stro­phen in der Geschich­te der Kern­ener­gie bei. 

Zur Bewer­tung der RBMK-Reak­to­ren in Tscher­no­byl stei­gen wir etwas tie­fer in die phy­si­ka­li­schen Grund­la­gen und die tech­ni­schen Abläu­fe ein, die das Unglück auslösten.

Rezeptur und Bauart der Tschernobyl-Reaktoren

Die in Tscher­no­byl betrie­be­nen RBMK-Reak­to­ren gehö­ren zu einem aus­schließ­lich in der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on ein­ge­setz­ten Reak­tor­typ, der in den 1970er und frü­hen 1980er Jah­ren gebaut wur­de. Sieb­zehn der­ar­ti­ge Anla­gen ent­stan­den in Russ­land, der Ukrai­ne sowie in Bela­rus und Litau­en. Inzwi­schen erfolg­te die Still­le­gung oder Moder­ni­sie­rung der meis­ten Reak­to­ren. Ein Ein­blick in die Funk­ti­ons­wei­se die­ser Reak­to­ren ist wich­tig, um die Ursa­chen der Kata­stro­phe zu ver­ste­hen. Zur Erin­ne­rung keh­ren wir zum Kapi­tel „Leicht­was­ser­re­ak­to­ren der Gene­ra­ti­on II“ zurück und fas­sen mit Hil­fe der Abbil­dung zum RBMK-Reak­tor zusammen.

Der Reak­tor nutzt Uran-235-Pel­lets in Brenn­stä­ben. Die­se Stä­be befin­den sich in Druck­röh­ren aus Zir­kon, durch die Was­ser zum Wär­me­trans­port und zur Küh­lung fließt. Als Mode­ra­tor die­nen­de Gra­phit­blö­cke umschlie­ßen die­se Röh­ren. In wei­te­ren Boh­run­gen kön­nen Steu­er­stä­be zur Leis­tungs­re­ge­lung ein- und aus­ge­fah­ren wer­den. Um eine Ent­zün­dung des Gra­phits zu ver­mei­den, befin­det sich die­ser in einem gas­dich­ten Behäl­ter mit einer Schutz­at­mo­sphä­re aus Heli­um und Stickstoff.

Wei­te­re Risi­ken der Reak­to­ren in Tscher­no­byl muss­ten hin­zu­kom­men, um die Kata­stro­phe aus­zu­lö­sen. Einer der Haupt­fak­to­ren war das Reak­tor­de­sign. RBMK-Reak­to­ren besit­zen einen posi­ti­ven Dampf­bla­sen­ko­ef­fi­zi­en­ten. Dies bedeu­tet, dass bei einem Anstieg der Dampf­bla­sen­bil­dung im sie­den­den Was­ser die Leis­tung des Reak­tors zunimmt. Die­ses Merk­mal macht den Reak­tor anfäl­lig für insta­bi­le Zustände.

Schließ­lich führ­te auch ein Pro­blem mit dem Sicher­heits­sys­tem des Reak­tors zur Kata­stro­phe. Die Reak­to­ren waren mit einem Not­ab­schalt­sys­tem aus­ge­stat­tet, das jedoch unzu­rei­chend war und in eini­gen Fäl­len sogar den Betrieb des Reak­tors ver­schlim­mer­te, statt ihn zu stop­pen. Wir kom­men noch dar­auf zurück.

Der­ar­tig vor­be­rei­tet wid­men wir uns den Ereig­nis­sen vom 26. April 1986 im Reak­tor-Block 4 des Kern­kraft­wer­kes Tschernobyl.

Ein Sicherheitstest mit Folgen [Chernobyl, 2019]

Es begann mit einem Sicher­heits­test. Als der Reak­tor von Block 4 im Jahr 1983 in Betrieb genom­men wur­de, waren die Arbei­ten nicht wirk­lich abge­schlos­sen. Die Abnah­me vor Jah­res­en­de muss­te erfol­gen, um den ver­ab­schie­de­ten Plan ein­zu­hal­ten. Orden für die füh­ren­den Betei­lig­ten wink­ten, aber ein Sicher­heits­test stand noch aus. Er soll­te nun am 26. April 1986 nach­ge­holt wer­den. Es ging um die Fra­ge, wie der Reak­tor bei Strom­aus­fall noch zuver­läs­sig gekühlt wer­den kann. Denn ohne Küh­lung rei­chen auch nach einer Abschal­tung die wei­ter­hin spon­tan statt­fin­den­den Kern­spal­tun­gen, um den Reak­tor zu über­hit­zen. Somit ist die Küh­lung auch bei Strom­aus­fall zwin­gend not­wen­dig. Doch die erfor­der­li­chen Sicher­heits­maß­nah­men für den Not­be­trieb des Kühl­kreis­lau­fes galt es noch zu testen.

Bei Strom­aus­fall soll­ten Die­sel­ge­ne­ra­to­ren ansprin­gen, um die Pum­pen im Kühl­kreis­lauf wei­ter zu betrei­ben. Doch lie­fer­ten die­se Not­ge­ne­ra­to­ren erst nach einer Minu­te genü­gend Strom. Bis dahin konn­te es zu spät sein, um die Über­hit­zung zu ver­hin­dern. Die vor­ge­schla­ge­ne Lösung für die­ses Pro­blem bestand dar­in, dass Nach­lau­fen der Tur­bi­nen nach einem Strom­aus­fall zu nut­zen, um die Kühl­pum­pen solan­ge zu betrei­ben, bis die Not­strom­ag­gre­ga­te ein­setz­ten. Die­ser Test schlug im ers­ten Ver­such fehl. Eben­so schei­ter­ten der zwei­te und der drit­te Ver­such. 

Das Risiko menschlichen Versagens

Der vier­te Ver­such soll­te am 26. April 1986 wäh­rend einer Nacht­schicht im regu­lä­ren Reak­tor­be­trieb erfol­gen. War­um aus­ge­rech­net in einer Nach­schicht? Der ursprüng­li­che Ter­min lag am 25. April in der Tag­schicht. Doch dann erreich­te die Besat­zung ein Anruf des Netz­be­trei­bers mit der Bit­te, kei­ne wei­te­re Leis­tungs­ab­sen­kung durch das Kraft­werk auf­grund hoher Strom­be­dar­fe vor­zu­neh­men. Doch die Lei­tung des Kraft­wer­kes woll­te den Test nun unbe­dingt und ver­schob des­halb den vier­ten Ver­such in die Nacht­schicht. Der Direk­tor des Kraft­wer­kes übte auf den Chef­inge­nieur der Schicht Ana­to­li Djat­low Druck aus. Auf teil­wei­se uner­fah­re­ne Unter­ge­be­ne gab Djat­low die­sen Druck wei­ter. So kam es zum tra­gi­schen Ablauf, den die Unter­su­chungs­kom­mis­si­on detail­liert im fol­gen­den Jahr vor Gericht vor­trug. [Cher­no­byl, 2019] 

Um Mit­ter­nacht fand ein Schicht­wech­sel statt. Ohne kla­re Anwei­sun­gen und ohne ein­deu­ti­ges Hand­buch wur­de eine für die­sen Ver­such nicht geschul­te Besat­zung über­ra­schend mit der Auf­ga­be kon­fron­tiert, den Test durch­zu­füh­ren. Hin­zu kam die man­gel­haf­te Füh­rungs­kom­pe­tenz des Chef­inge­nieurs, der kei­ne Ein­wän­de sei­ner Mit­ar­bei­ter gel­ten ließ. Die Hand­lun­gen zur Absen­kung der Reak­tor­leis­tung dele­gier­te Djat­low an Leo­nid Top­t­unow, ein 25-jäh­ri­ger Inge­nieur mit vier Mona­ten Berufserfahrung.

In der ers­ten Stun­de des 26. April gab Djat­low die Anwei­sung, die Leis­tung des Reak­tors zu sen­ken, um danach den Strom­aus­fall zu simu­lie­ren. Ziel war, nach der Abschal­tung zu mes­sen, ob die Tur­bi­nen im Aus­lauf noch eine Minu­te lang genü­gend Span­nung zum Betrieb der Kühl­pum­pen lie­fer­ten, bis die Die­sel­ge­ne­ra­to­ren ein­satz­be­reit waren.

Der Regelkreis eines RBMK-Reaktors

Die Auf­ga­be der Besat­zung bestand nun dar­in, den Reak­tor unter die­sen Bedin­gun­gen im Gleich­ge­wicht zu hal­ten, also mit ver­schie­de­nen Maß­nah­men die Spalt­ra­te des Reak­tors – sei­ne Reak­ti­vi­tät — zu steu­ern. Dazu schau­en wir uns den Regel­kreis des RBMK-Reak­tors an.

  1. Uran in genü­gend kri­ti­scher Men­ge erhöht ste­tig die Reak­ti­vi­tät, da rund drei­mal so viel Neu­tro­nen frei­ge­setzt wer­den, wie zur Kern­spal­tung benö­tigt. Eine Ket­ten­re­ak­ti­on kommt in Gang.
  2. Das Bor in den Steu­er­stä­ben ver­rin­gert durch den Ein­fang von Neu­tro­nen die Reaktivität.
  3. Das zur Küh­lung ein­ge­setz­te Was­ser ver­rin­gert die Hit­ze im System.
  4. Das Was­ser nimmt die mit der Kern­spal­tung frei­wer­den­de Wär­me auf und beginnt unter Nor­mal­druck bei 100 Grad Cel­si­us zu sie­den und bil­det Bla­sen. Im RBMK-Reak­tor gibt es einen soge­nann­ten posi­ti­ven Dampf­bla­sen­ko­ef­fi­zi­en­ten. 
  5. Mit wach­sen­der Anzahl von Dampf­bla­sen nimmt die Reak­ti­vi­tät zu. Somit ent­steht mehr Hit­ze, womit noch mehr Dampf­bla­sen im Was­ser gebil­det werden.
  6. Die­sem ver­stär­ken­den Pro­zess der Dampf­bla­sen wirkt wie­der­um der nega­ti­ve Tem­pe­ra­tur­ko­ef­fi­zi­ent des RBMK-Reak­tors ent­ge­gen. Die Reak­ti­vi­tät des Uran-Brenn­stof­fes ver­rin­gert sich, wenn er hei­ßer wird.

Die­ser schein­bar funk­tio­nie­ren­de Regel­kreis besitzt aber ein Pro­blem. Durch die Kern­spal­tung ent­steht Xenon. Die­ses Ele­ment ver­rin­gert die Reak­ti­vi­tät. Es wird des­halb auch als Reak­tor­gift bezeich­net. Im vol­len Leis­tungs­be­reich ver­brennt Xenon, aber nicht im gedros­sel­ten Betrieb. Auf­grund des geplan­ten Tests lief der Reak­tor aber schon seit 10 Stun­den mit hal­ber Maxi­mal­leis­tung. Xenon sam­mel­te sich an. Das Gleich­ge­wicht im Regel­kreis­lauf ging ver­lo­ren. In die­sem Zustand mach­te sich die Besat­zung dar­an, die Reak­tor­leis­tung wei­ter zu drosseln.

Auf­grund der Xenon-Ver­gif­tung ging die Leis­tung des Reak­tors statt der vor­ge­se­he­nen 700 Mega­watt auf weni­ge Mega­watt zurück. Laut Vor­schrift war der Reak­tor nun für 24 Stun­den voll­stän­dig abzu­schal­ten. Aber Djat­low wies die Besat­zung im Gegen­satz dazu an, die Leis­tung des Reak­tors wie­der hoch­zu­fah­ren, um den Test trotz­dem durchzuführen.

Der unaufhaltsame Gang der Ereignisse

Die Ereig­nis­se nah­men ihren Lauf. Es gab kei­nen Weg zurück. Der Reak­tor lief nur noch bei einer Rest­leis­tung von 30 Mega­watt, aber trotz­dem ent­stand zusätz­li­ches Xenon. Hin­zu kam nun, dass der Reak­tor nicht mehr heiß genug war, um aus­rei­chend Was­ser zu ver­damp­fen. In die­sem Zustand lässt sich die Leis­tung nur dann erhö­hen, wenn sehr lang­sam über eine Zeit­span­ne von 24 Stun­den vor­ge­gan­gen wird. Doch Djat­low for­der­te eine sofor­ti­ge Leistungserhöhung.

Somit zog die Besat­zung die Steu­er­stä­be schnell zur Hälf­te aus dem Kern. Doch durch die Xenon-Ver­gif­tung änder­te sich die Leis­tung nicht. Sich der Gefahr nicht bewusst, zogen die Inge­nieu­re bis auf sechs Steu­er­stä­be alle 211 Stä­be voll­stän­dig her­aus. Inzwi­schen war auch der Brenn­stoff erkal­tet. Wir erin­nern uns. Der Reak­tor besitzt einen nega­ti­ven Tem­pe­ra­tur­ko­ef­fi­zi­en­ten. Bei stei­gen­der Tem­pe­ra­tur sinkt die Reak­ti­vi­tät, aber mit fal­len­der Tem­pe­ra­tur steigt sie, was nun der Fall war.

In wel­chem Zustand befand sich der Reak­tor in die­ser Pha­se? Die Steu­er­stä­be waren drau­ßen. Trotz­dem lie­fer­te der Reak­tor nur eine Leis­tung von rund 200 Mega­watt. Das Xenon ließ kei­ne wei­te­re Leis­tungs­er­hö­hung zu. Hin­zu kam, dass das Not­kühl­sys­tem auf­grund des geplan­ten Tests nicht funk­tio­nier­te. Im Gleich­ge­wicht wur­de der Reak­tor jetzt nur noch durch das Xenon sowie das Was­ser gehal­ten. In die­ser Situa­ti­on befahl Djat­low die Aus­füh­rung des Tests, obwohl dafür 700 Mega­watt vor­ge­schrie­ben waren.

Die Pum­pen wur­den somit aus­ge­stellt und beför­der­ten kein Was­ser mehr durch den Reak­tor. Die vor­letz­te Brem­se war gelöst. Da nun kein Kühl­was­ser mehr durch den Reak­tor floss, erhöh­te sich die Reak­tor­leis­tung. Das Mit­tel zum Abtrans­port der dabei ent­ste­hen­den Wär­me, das Was­ser, fehl­te. Es ver­blieb nur das Rest­was­ser im Reaktor.

Der AZ-5-Knopf

Mit der gestie­ge­nen Leis­tung ver­dampf­te das rest­li­che im Reak­tor ver­blie­be­ne Was­ser. Es ent­stand eine rie­si­ge Dampf­bla­se. Die abge­schal­te­ten Pum­pen beför­der­ten kein neu­es Was­ser in den Reak­tor. Auf­grund des posi­ti­ven Dampf­bla­sen-Koef­fi­zi­en­ten der RBMK-Reak­to­ren erhöh­te der ent­stan­de­ne Dampf die Reak­ti­vi­tät. Damit stieg die Hit­ze im Reak­tor, was wie­der­um mehr Dampf und in der Fol­ge eine noch höhe­re Reak­ti­vi­tät bewirk­te. Durch die jetzt wie­der gestie­ge­ne Leis­tung ver­brann­te das ange­häuf­te Xenon. Die letz­te Brem­se ver­lor somit sei­ne Wir­kung und der Reak­tor fuhr unge­bremst in die Kata­stro­phe. Nichts konn­te die stei­gen­de Leis­tung mehr auf­hal­ten, da alle Mit­tel zur Sen­kung der Reak­ti­vi­tät fehlten.

Ent­setzt stell­te die Besat­zung den plötz­li­chen Leis­tungs­an­stieg des Reak­tors fest. Es blieb ihnen nur noch das Drü­cken des Knop­fes zur Not­ab­schal­tung. Sein Name lau­tet AZ‑5. Mit der Bedie­nung die­ses Schal­ters fah­ren sofort alle Steu­er­stä­be in den Reak­tor ein, um die Ket­ten­re­ak­ti­on des Urans zu been­den. Aber die­se Schnell­ab­schal­tung hat­te in Tscher­no­byl einen ent­schei­den­den Man­gel. Die Steu­er­stä­be sol­len mit dem ent­hal­te­nen Bor die Reak­ti­vi­tät ver­rin­gern. Aber beim Ein­fah­ren der Steu­er­stä­be erhöht sich kurz die Reak­ti­vi­tät, da die Spit­zen der Steu­er­stä­be aus Gra­phit bestehen. Gra­phit dient in RBMK-Reak­to­ren als Mode­ra­tor, um Neu­tro­nen für die Kern­spal­tung zu ver­lang­sa­men. Das zusätz­li­che Gra­phit stell­te also zusätz­li­che Neu­tro­nen für die Kern­spal­tung bereit.

War­um“ fragt der Rich­ter den wis­sen­schaft­li­chen Lei­ter der Unter­su­chungs­kom­mis­si­on Pro­fes­sor Legas­sow bezüg­lich des Zwecks von Gra­phit an den Steu­er­stä­ben. Er ant­wor­tet: „War­um? Aus dem­sel­ben Grund, war­um unse­re Reak­to­ren nicht mit Sicher­heits­be­häl­tern umhüllt sind wie die im Wes­ten und aus dem­sel­ben Grund, war­um unser Kern­brenn­stoff nicht sau­ber ange­rei­chert ist. Aus dem­sel­ben Grund, wes­halb wir welt­weit die ein­zi­gen Her­stel­ler von was­ser­ge­kühl­ten, gra­phit­mo­de­rier­ten Reak­to­ren mit posi­ti­ven Dampf­bla­sen-Koef­fi­zi­en­ten sind …. Es ist bil­li­ger.“ [Cher­no­byl, 2019] 

Das Finale und die Folgen

Mit Gra­phit an der Spit­ze der Steu­er­stä­be stieg die Reak­tor­leis­tung schlag­ar­tig an. Das gesam­te ver­blie­be­ne Was­ser ver­dampf­te unmit­tel­bar, dehn­te sich aus und ver­form­te die Ein­lass­ka­nä­le der Steu­er­stä­be. Die Stä­be blie­ben ste­cken. Das Gra­phit an den Spit­zen ver­stärk­te die Reak­ti­vi­tät zusätz­lich. Aber das Bor der Steu­er­stä­be ver­blieb außer­halb des Reak­tor­kerns und konn­te die Reak­ti­vi­tät nicht sen­ken. Der Reak­tor 4 von Tscher­no­byl war nun eine Atom­bom­be. Sei­ne Maxi­mal­leis­tung betrug 3000 Mega­watt. Der Leis­tungs­mes­ser zeig­te zum Schluss 33.000 Megawatt!

Mit die­ser extrem zuneh­men­den nuklea­ren Ket­ten­re­ak­ti­on explo­dier­te der Reak­tor­in­halt qua­si als klei­ne Atom­bom­be und spreng­te den Reak­tor­de­ckel weg. Somit gelang­te Sau­er­stoff in den Reak­tor, in dem die Hit­ze aus Was­ser Was­ser­stoff abspal­te­te. Der Sau­er­stoff reagier­te mit Was­ser­stoff und dem über­hitz­ten Gra­phit als Zünd­fun­ken in einer zwei­ten Explo­si­on. Die­se Explo­si­on zer­stör­te das Dach des Reak­tor­ge­bäu­des. Zurück blieb ein zer­stör­tes Gebäu­de sowie ein bren­nen­der, offe­ner Reak­tor. 

Die Not­ab­schal­tung wirk­te wie ein Zün­der. Der Besat­zung wur­de die­ser Man­gel ver­heim­licht. Aber dies war nur das letz­te Glied einer Serie von Fehl­ent­schei­dun­gen und von Macht­aus­übung. Die Fol­gen der Kata­stro­phe waren ver­hee­rend. Die Explo­si­on und das Feu­er ver­ur­sach­ten eine radio­ak­ti­ve Wol­ke, die sich über ganz Euro­pa aus­brei­te­te. Sie hin­ter­ließ die Umge­bung um das Kern­kraft­werk für Jahr­hun­der­te schwer ver­strahlt. Die Stadt des Kraft­wer­kes Prip­jat muss­te eva­ku­iert werden.

In unmit­tel­ba­rer Fol­ge der Explo­si­on star­ben zwei Mit­ar­bei­ter sofort. Wei­te­re an Lösch­ar­bei­ten und zur Scha­dens­be­gren­zung betei­lig­te Mit­ar­bei­ter, Feu­er­wehr­leu­te und Sol­da­ten star­ben an der Strah­len­krank­heit in den fol­gen­den Wochen. Schät­zun­gen gehen von 30 bis 50 Todes­fäl­len aus. Letzt­end­lich ist es deren Ein­satz zu ver­dan­ken, dass die Kata­stro­phe nicht in eine nuklea­re Explo­si­on unge­kann­ten Aus­ma­ßes mündete.

Die lang­fris­ti­gen Aus­wir­kun­gen mit indi­rek­ten Fol­gen wie Krebs und ande­re Krank­hei­ten kom­men hin­zu. Laut der offi­zi­el­len Schät­zung der Inter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­be­hör­de (IAEA) star­ben bis 2005 ins­ge­samt 4.000 Men­schen an den Fol­gen. Ande­re Schät­zun­gen lie­gen deut­lich höher und gehen von bis zu 90.000 Todes­fäl­len aus. 

 

Katastrophe Teil 3 – Fukushima

Die Schwachstelle der Leichtwasserreaktoren

Mit einer gewis­sen Über­heb­lich­keit kom­men­tier­ten Exper­ten des Wes­tens das Unglück von Tscher­no­byl. Schuld sei­en die ver­al­te­te und kos­ten­spa­ren­de Bau­wei­se der rus­si­schen RBMK-Reak­to­ren sowie mensch­li­ches Ver­sa­gen. In die­sem Aus­maß wäre ein Super-GAU in west­li­chen Län­dern mit Leicht­was­ser­re­ak­to­ren sehr unwahr­schein­lich. Doch die Ereig­nis­se in Fuku­shi­ma belehr­ten uns bald eines Besseren.

Das am 22. März 2011 vor der Ost­küs­te Japans statt­fin­den­de Erd­be­ben mit der Stär­ke 9,1 führ­te zu einer der schlimms­ten nuklea­ren Kata­stro­phen in der Geschich­te der Kern­ener­gie. Der vom Erd­be­ben ver­ur­sach­te Tsu­na­mi lös­te im Kern­kraft­werk Fuku­shi­ma Dai­i­chi eine Ereig­nis­ket­te bis zum Super-GAU aus. Nach einem Druck­was­ser­re­ak­tor in Har­ris­burg und dem gra­phit­mo­de­rier­ten Reak­tor von Tscher­no­byl traf es die­ses Mal Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren. Das Kraft­werk war für eine Tsu­na­mi-Höhe von 6 Metern aus­ge­legt. Aller­dings erreich­ten die anflu­ten­den Wel­len des viert­stärks­ten jemals gemes­se­nen Erd­be­bens eine Höhe von 14 Metern. Sie über­flu­te­ten somit das Kraftwerksgelände.

Das Erd­be­ben ver­ur­sach­te einen Aus­fall der Strom­ver­sor­gung, was zur Abschal­tung der Reak­to­ren führ­te und die Not­strom­ge­ne­ra­to­ren akti­vier­te. Die Auf­ga­be der Gene­ra­to­ren bestand dar­in, das Kühl­sys­tem der Reak­to­ren auf­recht­zu­er­hal­ten. Aller­dings wur­den die Gene­ra­to­ren durch den Tsu­na­mi über­flu­tet, was nun den Aus­fall der Reak­tor­kühl­sys­te­me bewirk­te. Aber auch im abge­schal­te­ten Zustand des Reak­tors lau­fen spon­ta­ne Spal­tungs­pro­zes­se des Uran-Brenn­stoffs wei­ter. Bei­spiels­wei­se besitzt ein Reak­tor mit einer Maxi­mal­leis­tung von einem Giga­watt immer­hin noch eine Rest­leis­tung von 30 Mega­watt. Dies erzeugt aus­rei­chend Wär­me, um die Tem­pe­ra­tur im Reak­tor ohne Küh­lung ste­tig stei­gen zu lassen.

Der regu­lä­re Kühl­kreis­lauf mit zuge­hö­ri­gen Kühl­mit­tel­pum­pen funk­tio­nier­te also nicht mehr. Um die Über­hit­zung der Brenn­stä­be zu ver­hin­dern, pump­te die Beleg­schaft See­was­ser in die Reak­to­ren. Zunächst wur­de dazu ver­sucht, die Pum­pen der Feu­er­lösch­sys­te­me des Kraft­werks zu nut­zen. Als dies jedoch auf­grund der beschä­dig­ten Infra­struk­tur nicht funk­tio­nier­te, kamen mobi­le Pum­pen zum Ein­satz. Die Arbei­ter beför­der­ten das Meer­was­ser in Tanks, von wo es dann in die Reak­to­ren gelei­tet wurde.

Auch Wasser kann Explosionen bewirken

Die Küh­lung der Reak­to­ren mit Meer­was­ser war eine Ver­zweif­lungs­tat, aber sie reich­te nicht. Da der Kühl­kreis­lauf nicht funk­tio­nier­te, konn­te zwar Was­ser ein­ge­pumpt wer­den, aber die Ablei­tung des sich erwär­men­den Was­sers war nicht gewähr­leis­tet. Dadurch stieg die Tem­pe­ra­tur in den Reak­to­ren weiter.

Somit erhöh­te sich mit stei­gen­der Tem­pe­ra­tur im Reak­tor­kern auch die Tem­pe­ra­tur des ein­ge­lei­te­ten Was­sers. Was­ser lässt sich durch ver­schie­de­ne Mecha­nis­men in Was­ser­stoff und Sau­er­stoff auf­spal­ten. Dies funk­tio­niert sowohl durch Elek­tro­ly­se, also die Spal­tung auf Basis einer elek­tri­schen Span­nung, als auch durch einen ther­mo­che­mi­schen Pro­zess. Hohe Tem­pe­ra­tu­ren kön­nen Was­ser in sei­ne ato­ma­ren Bestand­tei­le zer­le­gen. In Abhän­gig­keit von der Was­ser­ver­un­rei­ni­gung und vom Druck kann die­ser Pro­zess bei Tem­pe­ra­tu­ren über 1700 Grad Cel­si­us begin­nen. In Druck­was­ser­re­ak­to­ren star­tet der Pro­zess der Was­ser­spal­tung erst bei höhe­ren Tem­pe­ra­tu­ren. Das Kraft­werk in Fuku­shi­ma nutz­te aber Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren, deren Betrieb bei Nor­mal­druck erfolg­te, so dass eine Spal­tung schon bei nied­ri­ge­ren Tem­pe­ra­tu­ren mög­lich ist.

Der aus­tre­ten­de Was­ser­stoff wur­de anfangs in den Abga­sen der Reak­tor­ge­bäu­de gesam­melt und in explo­si­ons­ge­schütz­te Tanks gelei­tet. Spä­ter waren eini­ge der Tanks jedoch über­füllt, wodurch sich Was­ser­stoff in den Reak­tor­ge­bäu­den ansam­mel­te. Was­ser­stoff reagiert mit dem Sau­er­stoff der Luft in einer Knall­gas­ex­plo­si­on. Das Unglück des deut­schen Luft­schif­fes Hin­den­burg im Jahr 1937 und sei­ne Fol­gen sind bekannt. Es kam, wie es kom­men musste.

Am 12. März 2011 explo­dier­te das Gebäu­de des Reak­tors 1. Es wird ange­nom­men, dass sich Was­ser­stoff in den Gebäu­den auf­grund einer Fun­ken­bil­dung der Tur­bi­nen oder Gene­ra­to­ren ent­zün­de­te. Dies führ­te zur Explo­si­on des Gebäu­des und zur Frei­set­zung von radio­ak­ti­vem Mate­ri­al in die Umgebung.

Am 13. März explo­dier­te Reak­tor 1. Es folg­te am 14. März die Explo­si­on von Reak­tor 3 und am 15. März von Reak­tor 2. Ursa­che war jeweils eine Knallgasreaktion.

Schutzhüllen aus Beton – das Containment

Reak­to­ren sind heu­te im Gegen­satz zu Tscher­no­byl durch Beton­hül­len, das soge­nann­te Con­tain­ment, von den übri­gen Gebäu­den abge­schirmt. Der Was­ser­stoff sam­mel­te sich in ande­ren tech­ni­schen Berei­chen an. Die Explo­sio­nen fan­den somit außer­halb der Reak­to­ren als auch außer­halb der Reak­tor­schutz­hül­len statt. War­um trat nun so mas­siv radio­ak­ti­ves Mate­ri­al in die Außen­welt aus? Dafür gibt es meh­re­re Ursachen.

Die ers­te Ursa­che lern­ten wir schon ken­nen. In Fuku­shi­ma wur­den Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren ein­ge­setzt. Gegen­über Druck­was­ser­re­ak­to­ren besit­zen sie nur einen Was­ser­kreis­lauf mit zuflie­ßen­dem Kühl­was­ser und nach der Erhit­zung im Reak­tor mit abströ­men­dem Was­ser­dampf zum Antrieb der Tur­bi­nen. Zur Erin­ne­rung kön­nen sie zum Kapi­tel „Leicht­was­ser­re­ak­to­ren der Gene­ra­ti­on II“ zurück­blät­tern. Sie­de­was­ser­re­ak­to­ren besit­zen eine direk­te Ver­bin­dung zwi­schen dem Reak­tor­in­ne­ren und dem Tur­bi­nen­raum über die zuge­hö­ri­ge Rohrleitung.

Nach den Explo­sio­nen muss­te Meer­was­ser ste­tig zur wei­te­ren Küh­lung ein­ge­lei­tet wer­den. Da die Kühl­kreis­läu­fe defekt waren, floss das im Reak­tor kon­ta­mi­nier­te Was­ser in die ande­ren Gebäu­de­be­rei­che und in das Abkling­be­cken. Mit anstei­gen­den Was­ser­men­gen wur­de Was­ser in Außen­tanks gelei­tet, gelang­te aber auch in die Umwelt.

Die Explo­sio­nen beschä­dig­ten aber auch die Con­tain­ment-Struk­tu­ren der Reak­to­ren 1, 2 und 3. Das Con­tain­ment von Reak­tor 1 nahm den gerings­ten Scha­den. Die Con­tain­ment-Struk­tu­ren der Reak­to­ren 2 und 3 waren stär­ker betrof­fen. Infol­ge­des­sen trat Radio­ak­ti­vi­tät aus und kon­ta­mi­nier­te die Umgebung.

Die Reak­tor­be­häl­ter inner­halb des Con­tain­ments hiel­ten den Explo­sio­nen weit­ge­hend stand. Aller­dings gab es eine Aus­nah­me. In Reak­tor 2 wur­de der Deckel des Druck­be­häl­ters teil­wei­se abge­sprengt. Tei­le davon fan­den die Ein­satz­kräf­te spä­ter in der Umge­bung. Es ist jedoch unklar, ob dies durch eine Was­ser­stoff­ex­plo­si­on oder durch ande­re Ursa­chen, wie z.B. eine Über­hit­zung oder einen Druck­an­stieg im Reak­tor­be­häl­ter, ver­ur­sacht wur­de. Die­se Explo­si­on beför­der­te radio­ak­ti­ves Mate­ri­al aus dem Reak­tor­in­ne­ren in die Außenwelt.

Radioaktive Verseuchung der Umgebung

Die japa­ni­sche Regie­rung gab an, dass die Explo­si­on von Reak­tor 2 eine grö­ße­re Men­ge an radio­ak­ti­vem Mate­ri­al frei­setz­te. Dies betrifft Iso­to­pe wie Jod-131, Cäsi­um-137 und Stron­ti­um-90. Die Schild­drü­se des Men­schen sam­melt gern Jod, womit mit der Auf­nah­me von radio­ak­ti­vem Jod die Gefahr von Schild­drü­sen­krebs besteht. Als Gegen­mit­tel und zur Sät­ti­gung der Schild­drü­se mit Jod wird des­halb bei ent­spre­chen­den Gefah­ren die Ein­nah­me von Jod­ta­blet­ten emp­foh­len. Cäsi­um und Stron­ti­um sam­melt der Kör­per in Kno­chen. Ins­be­son­de­re Cäsi­um besitzt ähn­li­che Eigen­schaf­ten wie Kal­zi­um. Mit die­sen bei­den radio­ak­ti­ven Iso­to­pen droht Knochenkrebs.

Aber die Gefahr war mit der Küh­lung der Reak­to­ren nach den Explo­sio­nen nicht gebannt. Das Ver­fah­ren war nicht aus­rei­chend und es droh­te in den Reak­tor­blö­cken 1, 2 und 3 mit der wei­ter stei­gen­den Tem­pe­ra­tur im Reak­tor­kern das Schmel­zen des Uran-Brenn­stof­fes. Fach­leu­te spre­chen von der Kern­schmel­ze, die bei 2500 bis 2800 Grad Cel­si­us star­tet. Im schlimms­ten Fall kann es bei der Kern­schmel­ze zu einem über­kri­ti­schen Zustand und damit zu einer ato­ma­ren Explo­si­on kom­men. Der Kern­brenn­stoff kann aber auch durch die Beton­plat­te unter dem Reak­tor schmel­zen und damit in das Grund­was­ser gelan­gen sowie über das Fließ­was­ser gan­ze Regio­nen unbe­wohn­bar machen.

Laut Betrei­ber konn­te die Kern­schmel­ze im Reak­tor 2 ver­hin­dert wer­den. Doch im Reak­tor 3 betraf die begin­nen­de Kern­schmel­ze 33 Pro­zent sowie im Reak­tor 2 rund 55 Pro­zent des Brenn­stof­fes. Nach einem län­ge­ren Kühl­pro­zess konn­te die Kern­schmel­ze gestoppt werden.

Langfristige Folgen

Das Abküh­len des Brenn­stoffs nach einer Kern­schmel­ze kann meh­re­re Jah­re dau­ern. Heu­te ist der Brenn­stoff in den beschä­dig­ten Reak­to­ren weit­ge­hend abge­kühlt. Die Lage in Fuku­shi­ma blieb jedoch lan­ge ein erns­tes Pro­blem, da die Gefahr des Kon­tak­tes zwi­schen Brenn­stoff und Grund­was­ser wei­ter bestand.

Der Abkühl­pro­zess muss­te des­halb fort­ge­setzt wer­den. Der Betrei­ber Tep­co nutz­te in den Jah­ren nach dem Unfall meh­re­re Kühl­me­tho­den, wie zum Bei­spiel die Ein­sprit­zung von Stick­stoff in den Reak­tor, um eine mög­li­che Explo­si­on von Was­ser­stoff­gas zu ver­hin­dern. Tep­co hat auch damit begon­nen, das geschmol­ze­ne Mate­ri­al aus den beschä­dig­ten Reak­to­ren zu holen. Die Ent­fer­nung und Ent­sor­gung die­ser Mate­ria­li­en ist eine lang­wie­ri­ge und schwie­ri­ge Auf­ga­be. Kei­ne Robo­ter­elek­tro­nik hält der har­ten Strah­lung im Reak­tor­kern län­ge­re Zeit stand. Letzt­end­lich dau­ern die Arbei­ten an den hava­rier­ten Reak­to­ren wei­te­re Jahr­zehn­te. 

Außer­dem besteht immer noch ein gewis­ses Risi­ko für den Aus­tritt radio­ak­ti­ver Mate­ria­li­en in die Umge­bung, ins­be­son­de­re bei Unfäl­len oder Natur­ka­ta­stro­phen. 

Die Frei­set­zung von radio­ak­ti­vem Mate­ri­al aus Reak­tor 2 und den ande­ren Reak­to­ren von Fuku­shi­ma hat­te erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf die Umwelt und die Gesund­heit der Men­schen in der Regi­on. Dies führ­te zu einer lang­fris­ti­gen radio­ak­ti­ven Kon­ta­mi­na­ti­on der Umge­bung, zu not­wen­di­gen Eva­ku­ie­run­gen und zur Ein­rich­tung einer Sperr­zo­ne. Das am höchs­ten belas­te­te und des­halb zur Sperr­zo­ne erklär­te Gebiet umfasst rund 400 Qua­drat­ki­lo­me­ter. 

Mit der Ereig­nis­ket­te Har­ris­burg — Tscher­no­byl — Fuku­shi­ma schien das Schick­sal der Ener­gie durch Kern­spal­tung besie­gelt. Alvin Wein­berg hat­te genü­gend vor den Risi­ken der Leicht­was­ser­re­ak­to­ren gewarnt. Doch im Licht wei­te­rer tech­ni­scher Ent­wick­lun­gen und neu­er Reak­tor­kon­zep­te sowie in Bezug auf den not­wen­di­gen Umbau des Ener­gie­sys­tems auf­grund des Kli­ma­wan­dels kann die­se Form der Ener­gie­ge­win­nung wie­der eine Zukunft besit­zen. Wir wid­men uns dazu den nächs­ten Kapiteln.

Quellen

[Cher­no­byl, 2019] Cher­no­byl. Regie: Johan Reck; Pro­du­zent: San­ne Woh­len­berg; Pro­duk­ti­ons­fir­ma: Sis­ter Pic­tures, The Migh­ty Mint. 2019, Fol­ge 5.

 

Har­ris­burg — Tscher­no­byl — Fuku­shi­ma” — Lei­men / Hei­del­berg — 05. April 2023

Andre­as Kieß­ling, ener­gy design

Über Andreas Kießling 111 Artikel
Andreas Kießling hat in Dresden Physik studiert und lebt im Raum Heidelberg. Er beteiligt sich als Freiberufler und Autor an der Gestaltung nachhaltiger Lebensräume und zugehöriger Energiekreisläufe. Dies betrifft Themen zu erneuerbaren und dezentral organisierten Energien. Veröffentlichungen als auch die Aktivitäten zur Beratung, zum Projektmanagement und zur Lehre dienen der Gestaltung von Energietechnologie, Energiepolitik und Energieökonomie mit regionalen und lokalen Chancen der Raumentwicklung in einer globalisierten Welt.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


2 − eins =