Offener Brief an Minister Peter Altmaier
Sehr geehrter Herr Minister Altmaier,
in Ihrer Funktion als zuständiger Minister sprechen wir Sie auf diesem Wege bezüglich der Novelle zum Energiewirtschaftsrecht (EnWG-Novelle) an, um erweiterte Aspekte zur Novelle einzubringen.
Vorschlag
Wir schlagen vor, die im Entwurf zur EnWG-Novelle formulierte Definition von Energiespeicheranlagen durch die in der EU-Richtlinie 2019/944 vorgegebene Definition von Energiespeicherung und Energiespeichern zu ersetzen.
Es geht insbesondere darum, dass die Doppelbelastung von Energiespeichern durch Steuern und Netzentgelte zukünftig vermieden wird.
Weiterhin sollten aktive Betreiber und Kunden entsprechend der genannten EU-Richtlinie (Artikel 15, Abs. 5) zukünftig befugt sein, mit ihren Energiespeichern mehrere Dienstleistungen gleichzeitig zu erbringen.
In der täglichen Praxis als Energie–Ingenieursberater mit dem Schwerpunkt auf der Erstellung nachhaltiger Energiekonzepte wird mit Berechnungen und System-Simulationen immer wieder deutlich und praxisnah vor Augen geführt, welche Bedeutung Speicher im Gesamtsystem besitzen. Ohne diese sind Systeme mit hoher Verwendung erneuerbarer Energiequellen nicht realisierbar.
Die Thematik kann auf eine recht einfache Formel der Übermittlung von Energie nach Ort und Zeit gebracht werden. Je mehr erneuerbare Energien die Stromerzeugung bestimmen, umso mehr ist eine zeitliche Anpassung von Erzeugung und Verbrauch zu gewährleisten. Die Netze sorgen für die örtliche Verteilung von Energie. Speicher erbringen zeitliche Verschiebungsleistungen.
Speicher sind somit gleichberechtigter Teil des zukünftigen Energiesystems und ebenso systemrelevant wie die Netze.
Begründung
Chance der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik
Auf der Veranstaltung Mission Innovation Austria stellte Frau Prof. Dr. Claudia Kempfert — Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung — die sozio-ökonomische Dimension des Transformationsprozesses im Energiesystem dar.
Leider wird gerade diese Dimension in der Politik heute — auch im Entwurf zur EnWG-Novelle — noch unterschätzt. Es ist festzustellen, dass noch keine Einigkeit zum Zielsystem besteht.
Zu den grundlegenden Zielen bezüglich der Verringerung der Kohlendioxid-Emissionen in die Atmosphäre, des Ausbaus der erneuerbaren Energiegewinnung und der Steigerung der Effizienz beim Energieeinsatz besteht weitgehend Einigkeit. Zur Wegbestimmung folgt schnell die Uneinigkeit bei der Bestimmung des Zukunftsszenarios. Es stellt sich die Frage, ob es in der Gesellschaft sowie bei den politischen Entscheidern den Willen gibt, aus einem zentralen System eine dezentralere Architektur aufzubauen. Diese Frage wird in Folge des BMWI-Programms E‑Energy seit 2008 diskutiert und ist immer noch nicht entschieden.
Dabei erinnern wir uns gern an die persönliche Übergabe des Endberichts zum E‑Energy Projekt ‚Modellstadt Mannheim‘ in Ihren Räumen im Jahre 2013.
Heute steht bei den unterstützenden legislativen und regulatorischen Organen eher die Klärung der technischen Fragen im Fokus, statt durch die politischen Entscheider einen Konsens zur Zielbestimmung herzustellen, der Chancen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf Basis von Innovationen und Partizipation betont. Dazu schlagen wir auch vor, den Grad der technischen Detailregulierung zu reduzieren und stattdessen stärker auf die Innovationskraft der Gesellschaft und die Möglichkeiten der internationalen Standardisierung zu setzen.
Deshalb erscheint es weiterhin notwendig, den Kern der Veränderungsprozesse zu verdeutlichen.
Die Energiewende stellt aus unserer Sicht zuerst eine großartige Chance der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dar. Dabei wird ein Rahmen benötigt, der Anreize gibt, die neuen Wertschöpfungsmöglichkeiten für ein nachhaltiges Wachstum vielfältig zu ergreifen und in der Fläche zu verbreiten.
Dekarbonisierung – Dezentralisierung – Demokratisierung – Digitalisierung und Flexibilisierung
Dekarbonisierung sollte also mit der Dezentralisierung des Energiesystems neben neuen lastfernen Anlagen verbunden sein.
Die Gestaltung des Energiesystems erfolgt somit insbesondere in den Gebäuden, den Stadtquartieren, den Städten sowie auf gewerblichen, ländlichen und industriellen Arealen. Die EU-Richtlinien zu Erneuerbaren Energien und zum Elektrizitätsmarkt definieren entsprechende Forderungen zur Eigenversorgung, zur gemeinschaftlichen Eigenversorgung sowie zu Energiegemeinschaften. Verbunden damit ist die Demokratisierung des Energiesystems.
Dafür benötigen wir Zellen als Räume partizipativer und autonomer Gestaltung, um einerseits die Chancen der Energiewende vielfältig nutzen zu können sowie anderseits, um das damit verbundene Komplexitätswachstum zu beherrschen. Das Projekt C/sells konzipierte im Rahmen des von ihrem Haus geförderten SINTEG-Programmes entsprechende Musterlösungen.
Grundlage dafür sind die Digitalisierung und Flexibilisierung des Energiesystems.
Der Begriff Flexibilisierung beschreibt die Fähigkeit, die vorgesehene Energiebereitstellung und ‑nutzung zu bestimmten Zeiten ändern zu können. Die Planung im Energiesystem basierte bisher auf festgelegten Kraftwerksfahrplänen. Die Bilanzierung von Erzeugung und Verbrauch in bestimmten geografischen Räumen sowie die zugehörige Steuerung der Energieflüsse im Stromnetz sichert die Funktion des Gesamtsystems.
Die Steuerung erfolgt bisher zeitsynchron und in Abhängigkeit vom Ort.
Im Gegensatz dazu benötigt das zukünftige Energiesystem mit volatiler Erzeugung eine Menge verschiedener Verhaltensmöglichkeiten zur Energiebereitstellung und ‑nutzung. Das System muss flexibler werden. Erforderlich ist somit die technische Entkopplung der zeitlich synchronen und damit starren Verbindung von Erzeugung und Verbrauch. Benötigt werden vielfältige Möglichkeiten zur zeitlichen Verschiebung zwischen Erzeugung und Verbrauch. Ermöglicht wird dies durch aufladbare Energiekapazitäten analog einer Batterie oder eines Pumpspeicherkraftwerkes.
Die örtliche Steuerung muss zukünftig viel stärker durch Möglichkeiten zur zeitlich asynchronen Entkopplung von Energiebereitstellung und Energienutzung ergänzt werden.
Sektorenkopplung und virtuelle Speicher
Aufgrund des hohen Grades der Schwankungen der Leistungsangebote von Wind- und Solarenergie ist die erschließbare Flexibilität des Stromsystem nicht ausreichend. Daraus folgt die Forderung, die Möglichkeiten der Sektorenkopplung zu nutzen, also Energieträger integriert zu betrachten. Ein zentrales System kann die resultierende Komplexität nicht mehr beherrschen. Dies erfordert die Umsetzung in zellulären, autonomen sowie verbundenen Teilstrukturen des Energiesystems.
Mit der Erkenntnis, dass die Ortskomponente der bisherigen Steuerung mit starrer, synchroner Kopplung durch die zeitlich asynchrone Komponente der Steuerung auf Basis der Flexibilität zu ersetzen ist, wird die Bedeutung des Begriffes Speichers in allgemeiner Form deutlich. Vielfältige Energiekapazitäten, die Flexibilität erst ermöglichen, sind zu erschließen. Somit ist der bisherige nationale Ansatz zur Nutzung des Begriffes Speicher gegenüber der EU nicht ausreichend.
Erschließbare Speicherkapazitäten reichen von Pumpspeicherkraftwerken, über die Speicherfähigkeit von Wärme- und Gasnetzen, Wärme‑, Kälte- und Gasspeichern, die Verschiebung von Strom nutzenden Prozessen (Industrieprozesse bis zur Ladung von Elektrofahrzeugen), die Kopplung von Stromerzeugungsanlagen mit Energiewandlern (Strom in Wärme/Kälte, Strom in Gas und Flüssigkeiten, usw.) bis zur Nutzung von elektrochemischen Batterien. Dabei ist diese Liste der Technologien sicherlich nicht vollständig.
Aus unserer Sicht sind somit technologiebezogene Regelungen sowie der Bezug zur Erzeugung und zum Verbrauch für Speicher, wie in Bezug auf die EnWG-Novelle oben ausgeführt, ungeeignet. Statt einer gesetzlichen Regelung für eine bestimmte Technologie wird eine Regelung zum allgemeinen Speicherbegriff analog der EU-Definition benötigt.
Wir wollen keine spezifischen Unternehmensinteressen vertreten. Es geht darum, die Chancen der Transformation des Energiesystems für die gesamte Gesellschaft zu erschließen und somit Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum zu schaffen.
Zusammenfassung
Speicher sind also weder Verbraucher noch Erzeuger, sondern immanenter Teil des zukünftigen symbiotischen Gesamtsystems. Da Speicher im Gegensatz zu den Netzen in berechtigter Weise nicht reguliert, sondern im freien Markt allokiert sind und die ökonomischen Bedingungen für Speicher keine Investitionsanreize bieten, werden für die zukünftigen Bedarfe zu wenig Speicher errichtet.
Dies sollte für eine erfolgreiche Energiewende in der EnWG-Novelle im obigen Sinne verändert werden.
Für eine Berücksichtigung im Sinne einer zügigen und nachhaltigen Energiewende, auch im Sinne der Forderung nach einer europäischen Vereinheitlichung bedanken wir uns für Ihre Unterstützung und senden
freundliche Grüße
Dr.-Ing. Frieder Schmitt
Dipl.-Phys. Andreas Kießling
Mannheim, den 29. April 2021