Gemeinsame Sprache zum Verständnis einer komplexen Technologie
Klassifizierung und Systemmodell für Kernreaktoren: Kernreaktoren der Generation II enthielten grundlegende Risiken. Reaktoren der Generation III verminderten im erheblichen Maße diese Risiken auf Basis neuer Sicherheitstechnologien. Mit den Reaktoren der Generation IV werden nun Konzepte verfolgt, die grundlegende Einwände gegen die Nutzung der Kernspaltung zur Energiegewinnung entkräften. Um bereits betriebene Lösungen sowie neue Entwicklungen beurteilen und vergleichen zu können, wird eine gemeinsame Methode und Sprache zur Systembeschreibung verbunden mit der Klassifizierung von Reaktoren benötigt. Dieser Aufgabe widmet sich der vorliegende Artikel.
“Man darf nicht vergessen, dass das Entdecken nicht darin besteht, neue Landschaften zu finden, sondern neue Augen zu haben.“
Marie Curie, Physikerin und zweifache Nobelpreisträgerin
Inhaltsverzeichnis
- Die Energie der Atomkerne
- Energiepotenziale der Kernspaltung
- Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung oder „Der Mann mit der Axt”
- Technologiesuche zur Energiegewinnung mit Kernspaltung in der Generation I
- Leichtwasserreaktoren der Generation II
- Harrisburg — Tschernobyl — Fukushima
- Neue Sicherheitskonzepte und die Generation III
- Klassifizierung und Systemmodell für Kernreaktoren
- Kernkraftwerke neu gedacht und die Generation IV
- Die Energie der Sonne durch Kernfusion und aufkommende Technologien
Anforderungen zum Ausschluss grundlegender Risiken
Die Reaktoren der Generation II fanden weltweite Verbreitung. Doch mit dem ursprünglichen Ziel, eine Rezeptur der Kernspaltung zu nutzen, die die Produktion von Material für Atombomben erlaubte, wurden grundlegende Risiken akzeptiert. Die Möglichkeit, aus Uran-238 das kernwaffenfähige Plutonium-239 zu gewinnen, als auch die Nutzbarkeit der Reaktoren in Atom-U-Booten, überwogen bei den Entscheidern im Militär. Die besonderen Risiken waren mit der Entscheidung zugunsten von Reaktoren mit Wasserkühlung, mit Wasser oder Graphit als Moderator sowie mit Festbrennstoff aus einem Uran-235/Uran-238-Gemisch verbunden. Darauf basierten letztendlich die Katastrophen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima.
Reaktoren der Generation III verminderten im erheblichen Maße diese Risiken auf Basis neuer Sicherheitstechnologien. Doch die grundlegenden Probleme blieben bestehen. Die Verwendung von Druck- und Siedewasserreaktoren mit Festbrennstoff hinterlässt weiterhin einen hohen Anteil des ursprünglichen Materials als strahlenden Müll, der über Millionen Jahre der Endlagerung zugeführt werden muss. Wasser wird in den meisten Reaktortypen weiterhin als Kühlmittel benutzt. Die Gefahr von Kernschmelzen und Wasserstoffexplosionen bei Ausfall des Kühlsystems trotz neuer passiver Kühlmethoden und Wasserstoff-Rekombinationstechnik kann stark reduziert werden. Doch das grundsätzliche Risiko bleibt, wenn auch mit stark reduzierter Wahrscheinlichkeit.
Doch Ansätze ohne das Risiko der Kernschmelze sowie ohne die umfangreiche Endlagerung existieren bereits seit 50 Jahren. Insbesondere ermöglichen diese Konzepte
- die Minimierung von Endprodukten der Kernumwandlungsprozesse mit sehr hohen Halbwertzeiten im Bereich von zehntausenden und hunderttausenden von Jahren,
- den Ausschluss des Risikos von Kernschmelzen und überkritischen Massen an spaltungsfähigem Material,
- den Ausschluss des Risikos von chemischen Explosionsprozessen, wie diese beispielsweise bei Wasser als Kühlmittel durch die Trennung in Wasserstoff und Sauerstoff auftreten können,
- die Minimierung der Fähigkeit zur Produktion von kernwaffenfähigem Material während des Reaktorbetriebes sowie die Überwachbarkeit der Behandlung der Reststoffe
Dazu entwickelte oder noch in Entwicklung befindliche Technologien werden wir näher betrachten. Doch zuerst benötigen wir einen Überblick zu Rezepturen für Reaktoren der Generation IV im Vergleich zu Reaktoren der Generation I bis III. Im Rahmen des Fortschritts über vier Generationen entstanden vielfältige Reaktortypen mit unterschiedlichen Rezepturen. Um in der Vielfalt von Reaktorkonzepten nicht die Orientierung zu verlieren, benötigen wir weiterhin eine gemeinsame, grundlegende Systembeschreibung verbunden mit der Klassifizierung von Reaktoren. Der nächste Abschnitt widmet sich dieser Aufgabe. Wenn auch das Kapitel “Klassifizierung und Systemmodell von Kernreaktoren” ein wenig trocken erscheint, lohnt es sich. Die später beschriebenen Reaktoren der verschiedenen Generationen werden somit vergleichbar und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile bewertbar.
Klassifizierung von Kernreaktoren
Architektur und Wirkungsweise von Kernreaktoren sind inzwischen durch eine Vielfalt an Varianten gekennzeichnet, die aus der Verknüpfung von drei grundlegenden Elementen resultiert. Diese Elemente – Brennstoff, Mittel zur Beeinflussung der Neutronenflüsse und Kühlmittel – formen jeden Reaktor und bestimmen seine Funktionsweise.
Als Brennstoff können Uran-233, Uran-235 und Plutonium-239 dienen. Zusätzlich spielt das Element Thorium eine besondere Rolle, da hiermit die Erzeugung von Uran-Brennstoff möglich ist. Der nächste wichtige Bestandteil ist das Kühlmittel. Bisherige Reaktorkonzepte nutzen dafür normales Wasser, auch als Leichtwasser bekannt, oder schweres Wasser, aber auch Gas und Flüssigmetall. Als Moderator zur Verringerung der Neutronengeschwindigkeit dienen ebenso Wasser und schweres Wasser, aber auch Beryllium und Grafit. Eine spezielle Reaktorkategorie bilden Schnelle Brüter, die keinen Moderator benötigen. Ihre Effizienz bei der Kernspaltung basiert darauf, dass durch schnelle Neutronen Uran-238 in Plutonium-239 umgewandelt wird. Gespalten wird im Schnellen Brüter das Plutonium-239. Der Reaktor erbrütet seinen Kernbrennstoff somit unter Nutzung von Uran-238 selbst.
Diese Komponenten bilden die Basis zur Klassifizierung der Reaktoren von der ersten bis zur vierten Generation. Die Fachwelt unterscheidet folgende sechs Hauptkategorien, gekennzeichnet mit römischen Ziffern:
I. Leichtwasserreaktoren (LWR),
II. Schwerwasserreaktoren (SWR),
III. graphitmoderierte Reaktoren,
IV. schnelle Brüter,
V. Hochtemperatur-Reaktoren (HTR) und
VI. Flüssigsalzreaktoren.
Jede dieser Reaktorkategorien wird weiter in mit Buchstaben gekennzeichnete Reaktorklassen unterteilt, die jeweils ihre eigenen charakteristischen Bauarten und technischen Spezifikationen aufweisen. Die Reaktorklassen entsprechen somit einer zweiten Gliederungsstufe, die entsprechend der Liste im nächsten Abschnitt jeder Reaktorkategorie zugeordnet werden.
Jede Reaktorklasse enthält schlussendlich als dritte Ebene der Klassifizierung zugehörige Reaktortypen mit nummerischer Kennung. Zusätzlich wird allen Reaktortypen als weiteres Merkmal die Zugehörigkeit zu einer der Generationen I, II, III, III+ und IV zugewiesen.
Der Bau von Reaktoren erfolgte im 20. Jahrhundert im Rahmen von Großprojekten, quasi in Form von Unikaten. Derartige Projekte kosten inzwischen Milliarden Dollar. Im 21. Jahrhundert etablierte sich zunehmend die Idee kostengünstiger, industriell zu produzierender, kleiner und transportabler Kernreaktoren. Unter der englischsprachigen Bezeichnung Small Modular Reactors (SMR) erwartet die Fachwelt bis zum Jahr 2035 für SMR einen Anteil in Höhe von 10 Prozent an neugebauten Reaktoren. Angesichts dieses Trends berücksichtigt unsere Reaktorklassifizierung die Bauweise als wesentliches Unterscheidungsmerkmal.
Liste der Reaktorklassen
Nachfolgende Liste enthält die Reaktorklassen zu allen im letzten Abschnitt genannten Reaktorkategorien. Buchstaben kennzeichnen die Klassen innerhalb einer Kategorie.
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie I (deutsche und englische Bezeichnung):
- I.A. Druckwasserreaktor (DWR) — Pressurized Water Reactor (PWR)
- I.B. Siedewasserreaktor (SWR) — Boiling Water Reactor (BWR)
- I.C. Europäischer Druckwasser-reaktor (EPR) von AREVA – European Pressurized Reactor (EPR)
- I.D. Überkritischer Wasserreaktor (ÜWR) — Supercritical Water Reactor (SCWR)
- I.E. Integrierter Druckwasserreaktor (iDWR) — Integral Pressurized Water Reactor (iPWR)
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie II (deutsche und englische Bezeichnung):
- II.A. Schwerwasser-Druckröhrenreaktoren — Pressurised Tubes Heavy Water Reactors
- II.B. Schwerwasser-Druckreaktoren — Pressurized Heavy Water Reactors (PHWR)
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie III (deutsche und englische Bezeichnung):
- III.A. Gas-Druckbehälter-Reaktoren — Pressurized Gas Reactors
- III.B. Leichtwasser-Druckröhrenreaktoren — Pressurised Tube Reactors
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie IV (deutsche und englische Bezeichnung):
- IV.A. Natrium-gekühlte Druckbehälter-Reaktoren — Sodium-Cooled Pressurized Reactors
- IV.B. Natrium-gekühlte Druckröhrenreaktoren — Sodium-Cooled Pressurized Tube Reactors
- IV.C. Blei-gekühlte Druckbehälter-Reaktoren — Lead-Cooled Pressurized Reactors
- IV.D. Gas-gekühlte Druckbehälter-Reaktoren — Gas-Cooled Pressurized Reactors
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie V (deutsche und englische Bezeichnung):
- V.A. Kugelhaufen-Reaktoren — Pebble Bed Reactor
- V.B. Prismatische Hochtemperaturreaktoren (PHTR) — Prismatic High-Temperature Reactors (PHTR)
Reaktorklassen innerhalb der Reaktorkategorie VI (deutsche und englische Bezeichnung):
- VI.A. Flüssigsalz-Kühlungsreaktoren — Molten Salt Cooled Reactors (MSCR)
- VI.B. Flüssigsalz-Brennstoffreaktoren — Molten Salt Fuel Reactors (MSFR)
- VI.C. Dual-Fluid-Reaktoren (DFRs)
Zum besseren Verständnis dieser nicht anschaulich dargestellten Klassifizierung dient an dieser Stelle das folgende Beispiel: der Reaktortyp Westinghouse AP1000 (USA) mit der Klassifizierung I.A.1. Weitere Einordnungen erfolgen im nächsten Kapitel.
Klassifizierung
- Ebene 1: Reaktorkategorie I (fortlaufende römische Ziffern für Kategorien)
- Ebene 2: Reaktorklasse A (fortlaufende Buchstaben für Klassen)
- Ebene 3: Reaktortyp 1 (fortlaufende natürliche Zahlen für Typen)
Merkmale des Reaktortyps
- Bauweise: konventionelle Großbauweise
- Reaktorbezeichnung: Westinghouse AP1000 (USA)
- Generation: II/III
Die Vielfalt der Reaktorklassen zeigt sowohl die Anpassungsfähigkeit als auch die technologischen Fortschritte und Möglichkeiten in der Nukleartechnologie. Bevor wir uns den zukunftsweisenden Kernreaktoren der Generation IV zuwenden, benötigen wir ein Modell zur Reaktorbeschreibung, um eine gemeinsame Sprache zur Darstellung von Reaktorbauweise und Reaktorfunktionen zu verwenden. Ansonsten ergeht es uns wie beim Bau des Turms von Babel und wir verstehen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Technologieentwicklungen nicht.
Ontologisches Beschreibungsmodell für Reaktoren
Zur einheitlichen Beschreibung aller Reaktoren wird an dieser Stelle ein Begriffsmodell vorgeschlagen, das vom sogenannten ontologischen Energiesystemmodell abgeleitet ist. Dieses Modell zerlegt ein Energiesystem in einen Satz von Elementen, die der Modellierungsexperte Attribute nennt. Ein Teil dieser Elemente bildet wiederum eine Gruppe von Energiesystemkomponenten. Diese Komponenten besitzen bestimmte Eigenschaften und Funktionen. Sie stehen über Verbindungen zueinander in Beziehung (Relationen). Der interessierte Leser kann die begriffliche Grundlage zu den Themen System und Modell unter folgender Quelle finden: [C/sells – IOP Teil D. (06/2020)].
Wir verfolgen im nächsten Kapitel das Anliegen, bisher betriebene und neue Reaktortypen auf dieser Basis vergleichbar zu beschreiben. Darzustellen sind somit je Reaktorklasse die wichtigsten Komponenten und Funktionen sowie ihre Eigenschaften und Verbindungen. Wir blicken dazu noch einmal auf das Kapitel „Rezeptur der gesteuerten Kernspaltung“ zurück. Zur populärwissenschaftlichen Veranschaulichung dient eine sogenannte Zutatenliste, die die Rezeptur zur Funktion eines Kernreaktors darstellt.
Die Verbindung mit dem genannten Energiesystemmodell erfolgt über die Zuordnung von Komponenten, Eigenschaften, Funktionen und Verbindungen zu den jeweiligen Zutaten. Dies soll die Elemente eines Reaktorsystems überschaubar und für jede Reaktorklasse auf gleiche Weise darstellen.
I. Brennstoffe (Spaltmaterial)
- Ausgangsmaterial und Transmutationen
- Struktur des Brennstoffes und Aggregatzustand
II. Zünder (Spaltauslöser)
- Langsame (thermische) Neutronen
- Schnelle Neutronen
III. Neutronensteuerung
- Neutronenquelle zum Start der Kettenreaktion
- Neutronenabsorber zum Einfangen von Neutronen zwecks Regulierung oder Unterbindung der Kettenreaktion
- Moderator zur Erzeugung langsamer (thermischer) Neutronen
IV. Wärmetransport und Kühlung
- Medien zur Aufnahme und Transport der Wärmeenergie der Spaltungsprodukte
- Kühlmittel
V. Sicherheitstechniken und Abfallbehandlung
- Kernschmelzebehandlung
- Behandlung ausgebrannter Brennstoffe
- Abfälle und Abfalllagerung
Wir werden bei jedem Reaktortyp auf diese Elemente eingehen, wobei die einheitliche Form der Reaktorbeschreibung über das Rezepturgleichnis die Vergleichbarkeit zwischen Reaktoren verbessert werden soll.
Klassifizierung und Systemmodell für Kernreaktoren
Quellen
[C/sells – IOP Teil D. (06/2020)] Interoperabilität — Grundlagen der Massenfähigkeit Teil D. Glossar: Ergebnisdokument Terminologie Zelluläres Energiesystem. SINTEG-Programm des BMWi. Projekt C/sells. Teilprojekt 2 / Arbeitspaket 2.8. 04/2020
Klassifizierung und Systemmodell für Kernreaktoren: Leimen / Heidelberg — 04. Januar 2024